Im April 2009 hatte das Europäische Parlament die neue Antidiskriminierungsrichtline gebilligt, wir hatten berichtet . Die bis dahin geltende Antidiskriminierungsrichtlinie galt für Beschäftigung, Beruf und Berufsausbildung. Die neue Richtlinie wollte dies auch auf Sozialschutz, Bildung, Transport sowie Zugang zu Dienstleistungen erweitern. Zur Umsetzung dieser Antidiskriminierungsrichtlinie muss sie im Europäischen Rat von allen Mitgliedsstaaten einstimmig verabschiedet werden. Die deutsche Bundesregierung aber hat die Richtlinie blockiert.
Ein Jahr später ist diese Haltung unverändert geblieben. Inzwischen haben die Fraktionen im Bundestag Forderungen erhoben. Die FDP will die Richtlinie nicht, die Regierung sollte die EU-Kommission auffordern, den Richtlinienentwurf zurückzuziehen. Die Begründung: Die EU-Richtlinie fördere die Rechtsunsicherheit von Unternehmen. Durch die Fülle von unbestimmten Rechtsbegriffen sei es für sie nicht absehbar, welche Maßnahmen konkret erforderlich seien. Außerdem greife der Entwurf schwerwiegend in die Vertragsfreiheit ein. Nach Auffassung der FDP-Europaabgeordneten verstoße die EU-Richtlinie gegen das Prinzip der Subsidiarität. Es falle nicht in die Kompetenz des EU-Gesetzgebers, derart weit in die Selbstbestimmung der Mitgliedstaaten in der Sozialgesetzgebung einzugreifen. Die Ausdehnung der Antidiskriminierungsvorschriften auf nahezu alle Lebensbereiche sei realitätsfremd.
Im Oktober 2009 prüfte die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesregierung wegen unzureichender Umsetzung dreier EU-Richtlinien gegen Diskriminierung. Unter anderen seien im Bereich der Arbeitswelt keine angemessenen Bedingungen für Menschen mit Behinderungen umgesetzt worden, um diesen den Zugang zu Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Die deutsche Gesetzgebung regele dies europarechtswidrig nicht für alle Menschen mit Behinderungen, sondern lediglich für schwerbehinderte Menschen und behinderte Menschen, die diesen aufgrund behördlicher Entscheidung gleichgestellt seien. Zur Schaffung angemessener Vorkehrungen habe sich die Bundesrepublik Deutschland überdies gemäß den Artikeln 2 und 5 der Konvention der Vereinten Nationen für die Rechte behinderter Menschen verpflichtet.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wollte anschließend von der Bundesregierung wissen, welche Maßnahmen sie ergriffen habe, um „vollständig“ angemessene Bedingungen für Menschen mit Behinderung im Bereich Beschäftigung und Beruf zu schaffen, und damit eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof noch abzuwenden. Die Bundesregierung antwortete, sie prüfe die Rügen der Europäischen Kommission wegen der fehlenden Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien. Außerdem gebe sie wegen der vereinbarten Vertraulichkeit über die Arbeitsweise der EU keine weiteren Auskünfte. Mit dieser Antwort war die Fraktion jedoch nicht einverstanden und legte erneut eine Kleine Anfrage vor. Die Grünen betonen, die Regierung sei – mit wenigen Ausnahmen - grundsätzlich verpflichtet, parlamentarische Anfragen zu beantworten. Daraufhin stellte sich die Bundesregierung auf den Standpunkt, die Antidiskriminierungsrichtline der EU-Kommission sei in Deutschland bereits umgesetzt. Um Menschen mit Behinderung im Bereich Beschäftigung und Beruf den Gleichbehandlungsgrundsatz zu gewährleisten, sei bereits ein System sozialrechtlicher und arbeitsrechtlicher Regelungen vollständig umgesetzt. Hierzu zählte die Bundesregierung insbesondere Vorschriften des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, des Sozialgesetzbuches, des Bürgerlichen Gesetzbuches und der Arbeitsschutzgesetze.
Zahlreiche Verbände haben die Bundesregierung angesichts ihres Widerstandes gegen die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie heftig kritisiert. Von der EU-Kommission vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament unterstützt, könnte die neue Richtlinie vor allem den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen für behinderte Menschen erheblich verbessern.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte am 31. Januar 2010 „EU will Hausumbau für Behinderte erzwingen“. Der Journalist warnte, eine „strenge Auslegung der Richtlinie“ bedeute möglicherweise den behindertengerechten Umbau von Millionen von Wohnungen in Europa - mit Milliarden Euro Kosten.
Die Haltung der Bundesregierung wird auch von diversen Abgeordneten im Europäischen Parlament kritisiert. So würde verhindert, dass Menschen mit Behinderungen in der Europäischen Union zu ihren Rechten kommen.