Im Rahmen einer Fachtagung wurden am 27. April 2012 in Bielefeld die Ergebnisse der ersten repräsentativen Studie zur „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland“ vorgestellt. Finanziert und beauftragt wurde die Forschung zum Thema Gewalt gegen Frauen mit Behinderung vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).
Bereits vor ihrer Veröffentlichung hatte die Studie Schlagzeilen gemacht. Die Berichterstattung des TV-Politmagazins „Report Mainz“ am 14. Februar 2012 und die folgenden Presseberichte legten den Fokus auf den Missbrauch behinderter Frauen in Wohneinrichtungen oder in Werkstätten für behinderte Menschen.
Die Studie geht aber weit über diese Gruppen hinaus. Befragt wurden 1561 Frauen mit geistigen Behinderungen, Sinnesbehinderungen und Körperbehinderung sowie Frauen mit psychischen und chronischen Erkrankungen. 800 der interviewten Frauen leben in privaten Haushalten, 420 arbeiten in Werkstätten oder leben in Wohneinrichtungen. 341 seh-, hör- und schwerkörperbehinderte Frauen wurden über Aufrufe in Zeitungen und über Verbände für die Befragung gewonnen.
Ziel der Studie ist es, eine solide empirische Basis für gezielte Maßnahmen und Strategien gegen Gewalt und Diskriminierung von Frauen mit Behinderungen zu schaffen, so die Projektleiterinnen Dr. Monika Schröttle und Prof. Dr. Claudia Hornberg in der Einführung. Die dort vorgestellten Ergebnisse sind zentral für die Weiterentwicklung der Gewaltprävention.
Die zentralen Ergebnisse der Studie
Die Studie belegt empirisch, was schon seit langem bekannt ist: Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen sind in erheblichem Maße sexueller Gewalt ausgesetzt. Jede zweite bis dritte Frau der Studie hat sexuelle Gewalt erlebt. Täter sind häufig Partner und Familienangehörige, in Institutionen auch Kollegen oder Mitbewohner, seltener erfolgen Übergriffe durch das Personal.
Aus der Studie lassen sich zentrale Ergebnisse für die Gewaltprävention ableiten. Frauen mit Behinderungen sind bislang unzureichend vor körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt geschützt. Jede vierte bis fünfte befragte Frau fühlt sich nicht ausreichend geschützt. Jede dritte Frau in Einrichtungen gab an, keine Vertrauensperson zu haben. Die Studie macht außerdem das Ausmaß der Heterogenität von Frauen mit Behinderungen sichtbar und zeigt auf, dass ein zielgruppenspezifischer Ansatz für Präventionsmaßnahmen gegen Gewalt notwendig ist.
Tagung belegt großes Interesse an Ergebnissen
Das Interesse an den Ergebnissen der Studie war groß. Bis auf den letzten Platz war der Tagungssaal im Neuen Bielefelder Rathaus besetzt. Interessierte aus Politik, Wissenschaft und Praxis – und viele Vertreterinnen der Selbsthilfe – waren gekommen. Die BAG WfbM war durch die Referentinnen Janina Bessenich und Claudia Fischer vertreten.
Die politische Bedeutung der Studie war das zentrale Thema der Grußworte von Angelika Diggins-Rösner (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend), Professor Dr.-Ing. Gerhard Sagerer (Rektor der Universität Bielefeld), der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Bielefeld, Ilse Buddemeier, Brigitte Faber (Weibernetz e.V., Kassel) sowie von Magdalena Sadura (Frauennotruf Bielefeld).
Forschungsdesign und Befragung
Die Befragten wurden durch ein aufwändiges Zufallsprinzip in den Haushalten und Institutionen ermittelt. Diese Erhebungsmethode führte zu einem differenzierten Bild der Lebenswelten von Frauen mit Behinderungen und den Formen von Gewalt, der sie in besonderem Maße ausgesetzt sind.
Hervorzuheben sind die speziellen Befragungsmethoden. Um Frauen mit Hörbehinderung zu Wort kommen zu lassen, wurden Interviews in Gebärdensprache durchgeführt. Für Frauen mit einer geistigen Behinderung oder einer Lernbehinderung wurde die Befragung in verständlicher Sprache ausgearbeitet. Erstmals wurden auch Frauen mit geistiger Behinderung im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie interviewt, so die Projektleiterinnen.
Systemvergleich der Lebenssituation
Der Ansatz der Studie zielte auf eine differenzierte Abbildung der Lebenssituationen behinderter Frauen ab. Die Präsentation auf der Tagung zur Lebenssituation war enttäuschend. Hier präsentierten die Forscherinnen eine wenig differenzierte Gegenüberstellung. Die Befragungsergebnisse der Frauen in Privathaushalten wurden denen der Frauen in „Einrichtungen“ gegenübergestellt.
Als „Einrichtungen“ wurden Werkstätten und „Heime“ zusammengefasst. Anhand von Zahlenwerten wurde ein Systemvergleich konstruiert. Dieser ergab: Frauen in „Heimen“ und Werkstätten sind weniger oft in einer festen Partnerschaft, bekommen weniger Besuch, verdienen weniger Geld, bekommen kaum Kinder. Frauen in „Einrichtungen“ wurde eine drastisch schlechte Lebenssituation attestiert – verglichen mit dem Bevölkerungsdurchschnitt und verglichen mit Frauen mit Behinderungen, die in Privathaushalten leben. Dieser Vergleich legte Schlüsse über Institutionen nahe, die zu kurz greifen.
Die individuellen Voraussetzungen und Behinderungen der Frauen wurden in diesem Vergleich nicht berücksichtigt, sondern ausgeblendet. Menschen, die in Werkstätten leben oder in Wohneinrichtungen leben, sind oft deutlich schweren Behinderungen ausgesetzt oder haben einen deutlich höheren Unterstützungsbedarf. Darauf wurde im Rahmen dieses Kennzahlenvergleichs kein Licht geworfen. Die fragwürdige Präsentation der Lebenssituation behinderter Frauen in „Einrichtungen“ ist zu diskutieren. Diese Kritik soll aber die große Leistung der Studie keineswegs schmälern. Besonders die repräsentativen Ergebnisse zu sexueller Gewalt machen sie zu einem Meilenstein.
Maßnahmen zur Prävention
Die Studie macht deutlich, dass niedrigschwellige, barrierefreie Schutz- und Unterstützungsangebote ausgebaut werden sollten. Die Abhängigkeiten der Frauen aufgrund ihrer Behinderungen verstärken die Schutzlosigkeit und stellen eine Barriere dar, Übergriffe zu offenbaren. Für Frauen, die in Werkstätten arbeiten oder in Wohneinrichtungen leben, sollten externe „neutrale“ Ansprechpartner zur Verfügung stehen und bekannt sein.
Die Zitate aus den 31 qualitativen Interviews machen eindrücklich klar, dass darüber hinaus Maßnahmen erforderlich sind, die das Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein von Frauen mit Behinderungen stärken. Frauen, die seit Kindheit und Jugend eine Behinderung haben und Gewalterfahrungen machen mussten, fehlen vielfach Möglichkeiten und Strategien, sich gegen Gewalt zur Wehr zu setzen. Manche Frauen geben sich aufgrund ihrer Behinderung und ihren bisherigen Erfahrungen bisweilen selbst die Schuld oder Verantwortung für die Gewalt, die ihnen zugefügt wird. Selbstschutzmechanismen müssen erlernt und aufgebaut werden.
Die Studie auf dem Werkstätten:Tag
Auf dem Werkstätten:Tag am 27. September 2012 wird Projektleiterin Dr. Monika Schröttle die ausführlichen Studienergebnisse vorstellen. Sie werden derzeit noch ausgearbeitet und voraussichtlich im Sommer veröffentlicht. Im nächsten Werkstatt:Dialog werden die Ergebnisse und die sich daraus ergebenden Überlegungen zu Maßnahmen umfassend vorgestellt.
Das Forschungsteam
Die Studie wurde von 2009 bis 2011 vom Interdisziplinären Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF) und der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld unter der Leitung von Dr. Monika Schröttle und Professorin Dr. Claudia Hornberg durchgeführt. Kooperationspartner waren die Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Frauen- und Genderforschung e.V. (GSF e.V.), das Sozialwissenschaftliche FrauenForschungsInstitut Freiburg (SOFFI.F), das Institut für Soziales Recht an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Köln und das SOKO Institut GmbH Sozialforschung und Kommunikation, Bielefeld.
Die Zusammenfassung der Studie liegt bereits vor:
http://www.uni-bielefeld.de/IFF/for/zentrale_ergebnisse_kurzfassung.pdf
Die Kurzfassung der Studie inklusive Ergebnistabellen finden Sie hier:
http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Lebenssituation-und-Belastungen-von-Frauen-mit-Behinderungen-Kurzfassung,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf