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Werkstätten - die geeignete Einrichtung?
In den letzten Jahren ist ein starkes Augenmerk auf die Integration von Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gelegt worden. Als weiteren Baustein zu einem differenzierten Angebot, das sich am individuellen Bedarf unterschiedlicher Personengruppen orientiert, sind u. a. Integrationsunternehmen geschaffen worden. Die Werkstätten sind an dieser Entwicklung beteiligt und bringen ihre Kompetenzen und Verantwortung zur Integration von Menschen mit Behinderung in das Arbeitsleben in diesen Gestaltungsprozeß ein. Der (sozial-)politische Mainstream war in den vergangenen Jahren insbesondere auf die Personengruppen in Werkstätten gerichtet, die als besonders leistungsfähig galten. Das sind jene Menschen, die dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch nicht oder noch nicht wieder, oft aber nur mit entsprechenden Unterstützungen zur Verfügung stehen.

Bei dieser richtigen Orientierung auf eine am allgemeinen Arbeitsmarkt orientierte Teilhabepolitik darf der Blick auf die Einbeziehung einer anderen Personengruppe nicht verstellt werden: Das sind die, die wegen Art und Schwere der Behinderung dauerhaft auf intensive berufliche Rehabilitationsleistungen angewiesen bleiben und einen besonderen Bedarf an Assistenz, Betreuung und Pflege haben. Die Rede ist von den sogenannten schwerstbehinderten Menschen.

Gerade für diese Beschäftigten sind unsere Werkstätten in besonderem Maße gefordert, ihren Status als Einrichtung der beruflichen Förderung und Bildung unter Beweis zu stellen. Werkstätten müssen belegen, daß sie mehr sind als leistungsbezogene Produktionsstätten für Erwerbsgeminderte. Als Einrichtung zur Teilhabe am Arbeitsleben hat die Werkstatt für behinderte Menschen im Sinne ganzheitlicher Bildung besondere Leistungen zur sozialen und medizinisch-pflegerischen Betreuung zu erbringen, die den persönlichen Bedürfnissen dieses Personenkreises entsprechen.

Soweit die personellen, infrastrukturellen und organisatorischen Voraussetzungen gegeben sind oder hergestellt werden können, ist jedem Menschen mit Behinderung die Teilhabe am Arbeitsleben möglich zu machen, ungeachtet von Art und Schwere seiner Behinderung. Diese Orientierung hat in Nordrhein-Westfalen (NRW) zu einer sehr stark binnendifferenzierten Werkstatt geführt, in der sich die Angebote nicht nur nach den Arbeitsinhalten, sondern auch nach infrastrukturellen, arbeitsorganisatorischen und personellen Voraussetzungen unterscheiden.

Eine Besonderheit In Nordrhein-Westfalen ist, daß es keine Tagesförderstätten wie in anderen Bundesländern gibt. Ein wesentlicher Grund dafür ist der Grundkonsens zwischen Rehabilitationsträgern und den leistungsanbietenden Einrichtungen. Danach gilt, daß allen Menschen, ungeachtet von Art und Schwere ihrer Behinderung, die Teilnahme am Arbeitsleben offen steht. Dabei ist in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Voraussetzungen in personeller und sächlicher Ausstattung zu treffen sind, damit diese Teilnahme am Arbeitsleben differenziert möglich wird. Mit den Rehabilitationsträgern gelingt es, solche Rahmenbedingungen zu vereinbaren, die für die Teilnahme am Arbeitsleben in der Werkstatt erforderlich sind. Die wenigen Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Grundlage war und ist dabei die individuelle Bemessung des Personalbedarfs, der für schwerstbehinderte Menschen über den üblichen Personalschlüssel von 1:12 hinausgeht. Mit Hilfe von zusätzlich notwendigem Fachpersonal (Zusatzpersonal) und unter Schaffung entsprechender Voraussetzungen gelingt es, auch und gerade für diesen Personenkreis die Teilnahme am Arbeitsleben sicherzustellen.

Vor dem Hintergrund der regionalen Organisations- und Angebotsstruktur der nordrhein-westfälischen Werkstätten ist somit jeder einzelne Träger gefordert, in der Binnendifferenzierung ein breit gefächertes Angebot vorzuhalten und die Durchlässigkeit zwischen im Anspruch unterschiedlichen Arbeitsfeldern innerhalb der Werkstatt zu gewährleisten.

Solange sich alle an diesem Prozeß Beteiligten einig sind, daß im Grundsatz für alle Menschen mit Behinderung die Teilnahme am Arbeitsleben als vorrangige Zielsetzung zu sehen ist, stellt sich nicht die Frage, ob dieser Prozeß zu organisieren ist, sondern wie. Die Erwartungshaltung der Beteiligten ist dabei verständlicherweise nicht immer identisch. Gerade bei Menschen mit besonders hohem Bedarf an Förderung, begleitender Betreuung und Pflege bestehen bei den Verfahrensbeteiligten unterschiedliche Wahrnehmungen, wie das geleistet werden kann. Dabei kommt es immer wieder darauf an, das geforderte Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung ganz individuell zu definieren. Nicht anders haben in den 1980er und 1990er Jahren die Bundessozialgerichte entschieden. Der Organisationsprozeß stellt die Werkstätten vor besondere Herausforderungen. Vorbehaltlich der Bereitstellung der erforderlichen Ressourcen bedarf es eines hohen Aufwandes, individuell angepaßte Arbeitsplätze für schwerstbehinderte Menschen einzurichten und Arbeit so zu organisieren, daß die Teilnahme des einzelnen möglich wird. Gerade das macht aber nach meiner Einschätzung die Besonderheit einer Werkstatt für behinderte Menschen aus.

In Nordrhein-Westfalen gab es einen vorbildlichen Grundsatz: Wer eine Schule besucht hat und in eine Werkstatt möchte, dem muß sich die Werkstatt auch öffnen. Dieser konsensfähige Grundsatz hat unverändert Bestand und bezieht sich im übrigen nicht ausschließlich auf Schulabgänger. Zugegeben, die Aufnahme von schwertsbehinderten Menschen, die Akquise und Organisation von Arbeit für diesen Personenkreis gestaltet sich immer schwieriger und bereitet den Werkstattverantwortlichen große Kopfschmerzen. Dadurch relativiert sich mitunter auch die uneingeschränkte Bereitschaft, sich auf diesen Personenkreis einzustellen. Die Erfahrung hat aber gezeigt, daß unter der Voraussetzung der Bereitstellung entsprechender Ressourcen seitens der Rehabilitationsträger oft sehr viel mehr möglich ist als zunächst angenommen worden war - die bereits angesprochene Binnendifferenzierung der Werkstattangebote vorausgesetzt. Dabei darf nicht unterschätzt werden, daß der Aufwand hinsichtlich der Anpassung aller Instrumente zur beruflichen und sozialen Bildung, die Gestaltung von Arbeitshilfen und der Vorrichtungsbau, Schulung und Qualifizierung des Fachpersonals erheblich ist.

Es muß also auch in Zukunft keine Tagesförderstätten in NRW geben. Aus meiner Sicht gibt es keine Veranlassung, über den Aufbau von Tagesförderstätten auch nur nachzudenken. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, daß es immer möglich war und ist, die Teilhabe auch schwerstbehinderter Menschen am Arbeitsleben zu realisieren – von seltenen Ausnahmen abgesehen. Solange es gelingt, auch für schwerstbehinderte Menschen adäquate, d. h. auf ihre Ansprüche zugeschnittene Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Im übrigen stimmt das mit den Rechtsgrundlagen absolut überein: §§ 136, 137 SGB IX formulieren den in NRW konsensfähigen Grundsatz, daß Art oder Schwere der Behinderung unerheblich sind, wenn ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbracht werden kann. Auch eine besondere Betreuung oder Pflege stehen nach Rechtslage einer Aufnahme nicht entgegen. Eine Diskussion über besondere Tagesförderstätten ist in Nordrhein-Westfalen überflüssig.

Harald Mohr, LAG WfbM-Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen in Nordrhein-Westfalen



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