Für mich ist unstreitig, daß jeder Mensch, der die im SGB IX genannten Mindestvoraussetzungen zur Werkstattaufnahme erfüllt, auch einen Anspruch auf Beschäftigung in der Werkstatt hat. Nach Abschluß der schulischen Förderung auch eines schwerstbehinderten Menschen ist in der Regel davon auszugehen, daß zumindest seine berufliche Eingliederung in eine Werkstatt möglich ist.
Deshalb hier noch einmal ein vertiefender Blick auf die Zugangsvoraussetzungen zur Werkstatt. § 136 Abs. 2 Satz 1 grenzt den Zugang zur Werkstatt hinsichtlich des Leistungsvermögens nach unten hin ab, während Abs. 1 Satz 2 eine Abgrenzung nach oben hin, also zum allgemeinen Arbeitsmarkt vornimmt. Nach der formulierten Untergrenze steht behinderten Menschen nur dann die Werkstatt offen, sofern erwartet werden kann, daß sie spätestens nach Teilnahme an Maßnahmen im Berufsbildungsbereich wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistungen erbringen werden. Der Gesetzgeber definiert diesen Begriff nicht näher, nennt aber drei Tatbestände, bei denen er kraft Gesetzes unterstellt, daß ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung nicht erreicht werden kann. Diese Tatbestände sind:
- eine erhebliche Selbst- und Fremdgefährdung trotz einer der Behinderung angemessenen Betreuung (bis zum 31.07.1996 wurden diese Menschen als „nicht gemeinschaftsfähig“ bezeichnet)
- das Ausmaß der erforderlichen Betreuung und Pflege, das bereits für sich eine Teilnahme an berufsbildenden und begleitenden Maßnahmen der Entwicklung bzw. Weiterentwicklung der Persönlichkeit im Berufsbildungsbereich dauerhaft nicht zuläßt (bis zum 31.07.1996 wurden diese Menschen als „außerordentlich pflegebedürftig“ bezeichnet)
- sonstige nicht näher bestimmte Umstände - eine Auffangklausel, die nach meiner Kenntnis keine praktische Bedeutung hat.
Der Gesetz- und Verordnungsgeber hat den Begriff des Mindestmaßes wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung nicht definiert. Er ist deshalb in den vergangenen Jahren in der Rechtsprechung ausgestaltet und gefestigt worden. Da jedoch nur ein Mindestmaß erforderlich ist, reicht jedes Minimum an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung aus. Es kommt somit nicht darauf an, ob Arbeits-, Sach- und Personalaufwand und Arbeitsergebnis in einem wirtschaftlichen Verhältnis zueinander stehen, ob der behinderte Mensch die Kosten seines Platzes in der Werkstatt oder einen bestimmten Teil dieser Kosten erwirtschaftet oder der behinderte Mensch ein Mindesteinkommen erzielt. Das Urteil des Bundessozialgerichtes vom 29.06.1995 (11 RAR 57/94, BSGE 76, 178-184) bekräftigt und ergänzt diese Definition. Danach ist ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erwarten, wenn der behinderte Mensch an der Herstellung der von diesen Werkstätten vertriebenen Waren und Dienstleistungen durch nützliche Arbeit beteiligt werden kann.
Anforderungen und Rahmenbedingungen der Tagesförderstätten
Die BAG üS hat sich mit dieser Hilfeform intensiv befaßt und in ihren Werkstattempfehlungen geregelt, wobei sie sich für den Begriff der Förder- und Betreuungsstätten - quasi als Oberbegriff der verschiedenen Formen - entschieden hat (siehe Werkstattempfehlungen vom 01.01.2005).
Vorrang der Leistungen in Werkstätten
Die Aufnahme in eine Werkstatt ist vor allem bei aus einer Sonderschule entlassenen Menschen vorrangig gegenüber Maßnahmen in Förder- und Betreuungsstätten. Es gibt also aus unserer Sicht kein Wunsch- und Wahlrecht der betroffenen Menschen. Es empfiehlt sich deshalb, in den jeweiligen Regionen eine Absprache zu treffen, wonach in sämtlichen Fällen, in denen es nach Auffassung eines Beteiligten (Bundesagentur für Arbeit, Träger der Sozialhilfe, Werkstatt, behinderter Mensch bzw. gesetzlicher Vertreter) streitig ist, ob die Voraussetzungen für eine Aufnahme in eine Werkstatt vorliegen, die Werkstattfähigkeit stets zunächst im Eingangsverfahren abzuklären. Erst zum Abschluß des Eingangsverfahrens sollte endgültig über die Möglichkeiten der Teilhabe am Arbeitsleben entschieden werden. Kommt nach Durchführung des Eingangsverfahrens der Fachausschuß zu dem Ergebnis, daß die Voraussetzungen für die Erbringung von Leistungen im Berufsbildungsbereich der Werkstatt noch nicht vorliegen, empfiehlt er die Betreuung in der Förder- und Betreuungsstätte oder eine sonstige geeignete Maßnahme.
Lehnt der zuständige Rehabilitationsträger (in der Regel die Bundesagentur für Arbeit) Leistungen im Eingangsverfahren der Werkstatt mit der Begründung ab, daß seines Erachtens - entgegen der Auffassung des Trägers der Sozialhilfe - der behinderte Mensch die Voraussetzungen für eine Beschäftigung in einer Werkstatt nicht erfüllt, ist der behinderte Mensch auf seinen Anspruch auf Teilhabe am Arbeitsleben hinzuweisen. Er wird bei dessen Durchsetzung durch den Sozialhilfeträger unterstützt.
Schlußfolgerungen
- Tagesförderstätten sind keine Auslaufmodelle, sie sind nach wie vor notwendig, um schwerstbehinderten Menschen, die die Aufnahmevoraussetzungen in die Werkstatt nicht erfüllen, eine adäquate Beschäftigungs- und Fördermöglichkeit anzubieten. Dabei sind die Zugangsvoraussetzungen zur Werkstatt möglichst weit auszulegen. Das Angebot darf sich auch künftig nur an einen kleinen Kreis von Leistungsberechtigten richten. Es gilt deshalb zu verhindern, daß aufgrund von Einsparungswünschen der zuständigen Rehabilitationsträger Leistungen in Werkstätten mit der Folge versagt werden, daß eine Aufnahme in einer Tagesförderstätte empfohlen wird.
- Befürchtungen, daß Werkstätten mehr und mehr das Auffangbecken für behinderte Menschen werden, die angesichts der Anforderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und der Angebote dort keine Chance mehr haben, bestehen durchaus zu Recht. Die überörtlichen Träger der Sozialhilfe werden jedoch mit Argusaugen darüber wachen und alles Erforderliche tun, um eine solche Tendenzen und Bestrebungen zu verhindern. Sie sind schon heute mit der Finanzierung der Sozialhilfeaufwendungen für diejenigen Personen überfordert, die aufgrund von Art und Schwere der Behinderung auf die Leistungen in einer Werkstatt angewiesen sind. Auch gilt es zu verhindern, daß ein Verdrängungswettbewerb zu Lasten leistungsschwacher und schwerstbehinderter Menschen entsteht.
- Ein Verdrängungswettbewerb zu Lasten leistungsschwacher und schwerstbehinderter Menschen in Tagesförderstätten hätte gravierende Folgen für die künftige Konzeption, das Platzangebot und den Finanzbedarf der Tagesförderstätten. Im Falle eines möglichen Ausfalls von Leistungen der vorrangigen Rehabilitationsträger an behinderte Menschen, die die Werkstattaufnahme anstreben, sehen die Sozialhilfeträger keine Möglichkeit, die notwendigen Investitionen für das dann erforderliche Platzangebot als auch den Finanzbedarf für die Folgekosten, also die dann notwendigen Vergütungen aufzubringen. Würden sie dazu gesetzlich verpflichtet, könnten die erforderlichen zusätzlichen Mittel nur durch Einsparungen bzw. durch Umsteuerung von Leistungen „im System“ aufgebracht werden. Was das bedeutet, muß ich ihnen nicht näher darlegen.
Quelle: Auszüge aus dem Vortrag von Bernd Finke, Geschäftsführer der BAGüS, vom 2. Juni 2005 in Bonn im Rahmen der Fachtagung des BeB. Den kompletten Vortrag finden Sie auf der Webseite der BAGüS („Bunte Vielfalt unter einem Dach!“ Verbindungen schaffen – Profil bewahren?) unter: www.lwl.org