Politik 21.12.05
Werkstätten – Zukunft der Teilhabe am Arbeitsleben
Unsere Gesellschaft hat eine unaufkündbare Verantwortung gegenüber ihren schwächsten Mitgliedern, die unsere Hilfe brauchen. Für zahlreiche behinderte Menschen in Niedersachsen und den anderen Bundesländern sind Werkstätten nicht nur ein Arbeits-, sondern auch ein Lebensraum. Die schwindenden finanziellen Spielräume der öffentlichen Haushalte und der Sozialsysteme stellen jedoch auch diese Einrichtungen vor neue Herausforderungen. Der Ruf nach immer „mehr“ in gewohnten Mustern findet zunehmend seltener den gewünschten Widerhall.

Die Suche nach neuen Wegen ist auch für viele Leistungserbringer im sozialen Bereich unabdingbar. Globalisierung und Zeitwettbewerb sind keine exklusiven Themen der „harten“ Wirtschaftsbereiche. Die Auswirkungen prägen bereits das Alltagsleben jedes einzelnen Menschen in unserem Land. Wir befinden uns in einem Übergangsstadium von der Industrie- zur Informationsgesellschaft. Ein „Zurück“ gibt es nicht. Auch die Werkstätten spüren den zunehmenden Wettbewerb schon. Beispielsweise bei der schwierigen Akquise von Aufträgen.

Auf der anderen Seite wächst die Zahl der behinderten Menschen, die einen Arbeitsplatz in einer Werkstatt benötigen, weiter an. Die allgemeine Arbeitsmarktlage verunsichert zahlreiche Menschen. Viele Beschäftigte haben Sorge, den steigenden Anforderungen im Job nicht mehr zu genügen. Es ist zu erwarten, daß seelische Behinderungen zunehmen. Hinzu kommen Personengruppen, die real behindert sind, deren Behinderungsform sich aber in die üblichen statischen „Klassifizierungen“ der Eingliederungshilfe nicht einordnen läßt. Auch wenn genaue Prognosen kaum möglich sind, so ist der Trend ist doch eindeutig.

Daher benötigen wir auch in Zukunft dringend ein breites Angebot an Einrichtungen für behinderte Menschen. Und die Werkstätten haben keinen Grund, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. Sie verfügen in ihrer Gesamtheit bereits heute über Kompetenzen, auf die die Gesellschaft nicht verzichten kann:

die berufliche und allgemeine Bildung benachteiligter Menschen sowie deren Beschäftigung, paßgenaue Angebote in den Bereichen Pädagogik, Therapie, Pflege. Werkstätten schaffen und erhalten nicht nur einen Arbeits- und Lebensraum für Menschen, die unsere Hilfe benötigen. Häufig sind sie auch wirtschaftlich erfolgreich.

Persönlichkeitsförderung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist für Unternehmen, Betriebe und Behörden des allgemeinen Arbeitsmarktes ein zunehmend wichtiges Thema. Doch diese Programme sind in der Regel ausschließlich auf eine nicht behinderte Belegschaft zugeschnitten. Die Werkstätten engagieren sich seit langem professionell in der Arbeit mit behinderten Menschen. Über viele Jahre haben sie sich einen Kompetenzvorsprung im Bereich der Persönlichkeitsförderung benachteiligter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erarbeitet.

Wir wissen alle, wie schwer es ist, behinderte Menschen in ein reguläres Arbeitsverhältnis des allgemeinen Arbeitsmarktes zu vermitteln. Für das Jahr 2002 wurde beispielsweise eine sehr ernüchternde bundesweite Quote von 0,24 Prozent festgestellt. Die Werkstätten in Niedersachsen können gleichzeitig auf eine beeindruckende Entwicklung bei den Außenarbeitsplätzen verweisen. Im Jahr 1999 gab es davon in diesem Bundesland nur 175. Fünf Jahre später existierten in Niedersachsen bereits 656 ausgelagerte Arbeitsplätze für behinderte Frauen und Männer. Dies sind nicht nur zusätzliche Werkstattplätze, die Einsparungen beziehungsweise Kostenneutralität ermöglichen. Oft sind diese Jobs so genannte Einfacharbeitsplätze auf dem allgemeinen Beschäftigungsmarkt.

Auch andere Ansätze stimmen mich optimistisch. Im Saarland hat sich beispielsweise das Projekt „Virtuelle Werkstatt“ in kurzer Zeit als sehr erfolgreich erwiesen. Nach diesem Modell werden paßgenaue und häufig spezialisierte Jobs auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gesucht und vermittelt. Ob traditionell oder virtuell: Außenarbeitsplätze bedeuten für viele behinderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Höchstmaß an Integration in die Berufswelt. Vieles spricht dafür, dass zukunftsfähige Lösungsansätze häufig außerhalb der gewohnten Werkstättenstrukturen zu finden sind.

Vielversprechend sind etwa Netzwerke zwischen Werkstätten und lokalen Unternehmen oder auch Partnerschaftsmodelle, in denen beispielsweise die Werkstätten der Industrie beratend ihre Erfahrung und ihr Wissen zur Verfügung stellen. Denkbar ist auch, daß Werkstätten ihr hohes Maß an Kompetenz in diesem Bereich fruchtbar machen, indem sie Komplettlösungen für Unternehmen erarbeiten. Ich würde mir zudem wünschen, daß anstelle von Einzelarbeitsplätzen künftig Teamkonzepte eine größere Rolle spielen.

Gefragt sind vor allem gute Ideen und eine grundsätzliche Bereitschaft zum Wandel. Ich bin sicher, daß Werkstätten auch in Zukunft für viele Menschen der angemessene Ort produktiver Arbeit sein werden – wenn sie bereit sind, die geänderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zur Kenntnis zu nehmen und mutig ihre Chancen zur Weiterentwicklung zu nutzen.

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend



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