Die Situation der Beschäftigten in den deutschen Werkstätten hat sich nach den jüngsten Reformen in der Sozial- und Beschäftigungspolitik verschlechtert. Der staatliche Kostenträger für ihre berufliche Bildung, die Bundesanstalt für Arbeit, hat monatelang die gesetzlichen Zahlungsverpflichtungen für die rund 20.000 Anspruchsberechtigten verzögert oder sogar eingestellt. Die Führung dieser Behörde war monatelang nicht bereit, sich mit den Forderungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten auseinanderzusetzen. Erst eine spontane Demonstration vor dem Hauptgebäude der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg brachte Bewegung in die starre Front der Leistungsverweigerer.
Die Leitung der Bundesarbeitsgemeinschaft befürchtet, daß über 210.000 schwerbehinderte Menschen in Werkstätten zunehmend ins Abseits gedrängt werden. Denn auch in Deutschland ist die Tendenz unverkennbar, daß sich die staatliche Förderpolitik vornehmlich auf arbeitslose schwerbehinderte Arbeitnehmer|inn|en konzentriert, weil die - zumindest grundsätzlich - auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt integriert werden können. Dieses offizielle Ziel unterstützen auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten und mit ihr alle Wohlfahrtsverbände. Es darf aber nicht auf Kosten geistig und psychisch schwerbehinderter Menschen angestrebt werden, deren Integration auf den allgemeinen Arbeitsmarkt aufgrund der Art und der Schwere ihrer Behinderung nicht möglich ist, und die als voll erwerbsgemindert gelten.
Kasseler Erklärung des Präsidiums der BAG WfbM
Die Bundesanstalt für Arbeit ist ein wichtiger Rehabilitationsträger im deutschen System. Sie spielt für die berufliche Bildung schwerbehinderter Erwachsener in den Werkstätten und bei der investiven Förderung eine bedeutende Rolle. Die jetzt einseitig vorgenommenen umfangreichen Sparmaßnahmen sehen eine Konzentration auf arbeitsmarktnahe Personenkreise vor. Damit wird die Förderung nicht erwerbsfähiger behinderter Menschen nachrangig. Es droht der gesetzwidrige Rückzug dieser wichtigen Behörde aus dem Engagement für die Werkstattbeschäftigten. Aber auch andere staatliche Finanziers erfüllen nicht mehr im gesetzlich vorgegebenen Umfang ihre Förderverpflichtungen. Um auf die politisch Verantwortlichen auf die damit verbundene Gefahr hinzuweisen, daß die deutschen Werkstätten ihre gesetzlichen Leistungsverpflichtungen nicht mehr erfüllen können, hat das Präsidium der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten auf seiner Sitzung in Kassel eine "Kasseler Erklärung" an die Bundesregierung verabschiedet und sie aufgefordert, Korrekturen vorzunehmen.
Europäischer Protesttag 5. Mai 2003
In der ersten Jahreshälfte hat diese Einsparpolitik dazu geführt, daß die Aufnahme von behinderten Menschen verzögert wurde und die Finanzierung der beruflichen Bildung, die in deutschen Werkstätten zwei Jahre beträgt, ungesichert war. Damit wurden behinderte Menschen im Ungewissen über ihre berufliche Zukunft gelassen und es hätte zu bislang in Deutschland unbekannten Wartelisten kommen können. Am 5. Mai, dem Europäischen Protesttag zur Gleichstellung behinderter Menschen, sind daraufhin ca. 500 Werkstattbeschäftigte vor der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg zu einer Demonstration angereist, um die Sicherstellung beruflicher Bildungsmaßnahmen in den Werkstätten zu demonstrieren. In einem anschließenden Gespräch mit der Bundesanstalt für Arbeit wurde den Vertreter|inne|n sowie Vorsitzenden der BAG WfbM Günter Mosen zugesichert, daß "es keine Einschränkungen geben wird. Die Bundesanstalt für Arbeit wird alle Rechtsansprüche erfüllen".
Europaweite Ausgrenzung von Werkstattbeschäftigten?
In vielen Mitgliedsländern der Europäischen Union sind derzeit Tendenzen erkennbar, daß der Personenkreis der voll erwerbsgeminderten Personen (Werkstattbeschäftigten) zunehmend aus der Beschäftigungspolitik ausgegrenzt wird. So ist nicht ersichtlich, inwieweit diese Personen in den Geltungsbereich der "Rahmenrichtlinie für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf" (2000/78/EG), die bis zum Dezember 2003 in den Mitgliedsländern umgesetzt werden muß, einbezogen sind. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten spricht sich entschieden gegen eine politische Schwerpunktsetzung aus, die die voll erwerbsgeminderten Menschen mit schweren Behinderungen nachrangig behandelt und damit zusätzlich benachteiligt. Ein ausdrückliches Benachteiligungsverbot, wie es die deutsche Verfassung erst seit 1994 kennt, sollte deshalb integraler Bestandteil der europäischen Antidiskriminierungspolitik sein. Eine wirkungsvolle Teilhabe und Gleichstellung aller behinderten Menschen kann daher nur mit einer europaweiten Antidiskriminierungsrichtlinie aufgrund von Behinderung erreicht werden, wie sie der Europäische Behindertenrat dem Europäischen Parlament unterbreitet hat. Gerade im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen muß ein derart deutliches europaweites Signal gesetzt werden.