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Europäische Sozialpolitik und das Tauziehen um die Dienstleistungsrichtlinie
Derzeit werden innerhalb Europas drei große Linien der Sozialpolitik unterschieden: das angelsächsische Modell, das Liberalität und Freiheit von Diskriminierungen betont; das nordeuropäische mit umfassendem Sozialschutz auf Basis hoher Besteuerung, und das kontinentale – ein Mittelweg zwischen beiden. Aber seit etwa fünf Jahren stoßen wir auch auf den Begriff einer „europäischen Sozialpolitik“. Denn vor dem Hintergrund der Debatten über die Globalisierung werden in Europa sozialstaatliche Leitgedanken formuliert, die eine selbstbewußte Auseinandersetzung mit den Sozialsystemen anderer Kontinente ermöglichen sollen.

Bislang hat die Europäische Union Sozialpolitik noch nicht gemeinsam bearbeitet, dafür fehlt ihr, sowohl nach dem Nizza-Vertrag von 2000 als auch nach dem vorerst abgelehnten Verfassungsvertrag, die Kompetenz. Schon heute aber beeinflußt die EU als Wettbewerbshüterin, durch EU-Recht wie z.B. die Anti-Diskriminierungsrichtlinie, aber auch durch Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) die Tätigkeit von Trägern und Anbietern sozialer Dienste erheblich. Daneben wird über die „Offene Methode der Koordinierung“ eine Art permanenter Dialog zwischen den Regierungen über sozialpolitische Verfahrensweisen und good practices geführt.

50 Jahre Integrationsgeschichte lassen die Prognose zu, daß auch die Sozialpolitik langfristig stärker vereinheitlicht werden wird. Aktuell sind es jedoch eher Rechtsetzungsvorhaben der EU, die von seiten der EU-Binnenmarktfreiheiten her in die Sozialstaatlichkeit hineinwirken. Da Rechtsakte für diesen Bereich im Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit – vereinfacht ein zwei-Drittel-Quorum – abgestimmt werden, können einzelne Mitgliedstaaten zur Umsetzung einer Regelung verpflichtet werden. Deshalb sehen es zahlreiche Verbände und Vereinigungen der Wohlfahrtspflege derzeit als erforderlich an, bereits im Vorfeld der erwarteten Dienstleistungsrichtlinie ihre Positionen gegenüber Politik und Öffentlichkeit deutlich zu machen. Kritikwürdig erscheint z. B., daß von der EU-Kommission ein Ansatz „negativer Integration“ ausgeht, durch den sozialpolitische Kompetenzen der einzelnen EU-Länder beseitigt, aber nicht wirklich integriert werden, weil die europäische Ebene keine entsprechenden Zuständigkeiten übernimmt.

Die geplante Dienstleistungsrichtlinie soll das grenzüberschreitende Angebot von Diensten grundsätzlich frei- und somit dem Warenverkehr gleichstellen. Umstritten ist bislang, ob dabei die Vorschriften des Sitzstaates von Anbietern gelten sollen – das sog. Herkunftslandprinzip. Dies mag Verwaltungsverfahren vereinfachen und somit Bürokratie abbauen, aber eine effektive Kontrolle der erbrachten Dienste über elementaren Gesundheitsschutz hinaus scheint dann nicht mehr gewährleistet.

Das Tauziehen um die Dienstleistungsrichtlinie ist symptomatisch für den gegenwärtigen Diskussionsstand: Im Gefolge einer marktliberalen Orientierung soll ein umfassender Dienstleistungsbegriff durchgesetzt werden, der Souveränität und Eigenverantwortlichkeit bei den Klienten wie bei „Kunden“ generell voraussetzt; eine ethische Orientierung – christlich oder anthropologisch begründet – zielt auf Bereichsausnahmen ab, so daß die Marktgesetze bei den sozialen Diensten nur eingeschränkt gelten können. Oft erscheinen die Stakeholder (deutsch: Interessenvertreter) in der Defensive. Deshalb ist es weiterhin erforderlich, daß die Träger der freien Wohlfahrtspflege eigene Positionen entschlossen vertreten und die Qualitätsstandards sozialer Dienste im Sinne der sozialstaatlichen Identität weiterentwickeln. Denn die europäische Sozialpolitik steht erst am Anfang und sollte nicht auf ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten von Marktfreiheiten beschränkt werden.

Dr. Stephanie Scholz, Europareferentin des Diakonischen Werkes der EKD, Berlin



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