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Große Solidarität in den Einrichtungen
Wie gehen Menschen mit seelischen, psychischen oder geistigen Behinderungen und ihre Betreuer*innen mit der Coronavirus-Krise um? Einblick in ein Wohnheim der Lebenshilfe Ostallgäu.

Von Montag bis Freitag arbeitet Gerrit in der Montage in den Wertachtal-Werkstätten Kaufbeuren. Dort erledigt sie unterschiedliche Arbeiten – vom Schachtelfalten oder Abpacken hin zu einfachen Montagetätigkeiten. „Aber jetzt können wir nicht mehr in die Werkstatt, weil wir dort in Gefahr sind“, sagt sie und schüttelt bedauernd die Schultern. Sie sei zwar sehr froh darüber, dass Menschen mit Behinderung durch die vorübergehende Schließung der Werkstätten in Schutz genommen werden. „Doch es macht mich sehr traurig, dass ich dadurch meine Arbeitskollegen und vor allem meinen Freund und meine Eltern nicht mehr sehen kann.“

Gerrit wohnt schon lange nicht mehr zuhause, sondern im Wohnheim Luxdorfer Weg in Kaufbeuren. Sie ist eine von zurzeit 142 erwachsenen Menschen mit teilweise mehrfachen und schwersten Behinderungen, die in einem der sechs Wohnheime der Lebenshilfe Ostallgäu in Kaufbeuren und Marktoberdorf leben. Ihre Familie und ihren Freund kann sie derzeit nur telefonisch erreichen. Denn die aufgrund der Corona-Epidemie erlassene Allgemeinverfügung zum Betretungsverbot gilt auch für Einrichtungen der Behindertenhilfe, ebenso wie die Hygiene- und Abstandsregelungen sowie die Beschränkung, möglichst wenig Zeit mit anderen Menschen zu verbringen. Einschränkungen, die Menschen ohne Beeinträchtigung schon einige Mühe bereiten. Doch wie gehen Menschen mit kognitiver Einschränkung mit der jetzigen Situation um?

„Die Bewohnerinnen und Bewohner nehmen je nach Grad der Einschränkung durchaus wahr, was gerade passiert“, so Claudia Kintrup, Geschäftsführerin der Lebenshilfe Ostallgäu. Die einen freuen sich über das späte Aufstehen und mehr Zeit für Spiele und Erholung, die anderen vermissen den Werkstatt-Alltag und ihren gewohnten Wochenrythmus sehr. Umso länger Betretungsverbote und Ausgangssperren gelten, umso schwieriger werde es, die Bewohner zu motivieren. „Gerade für diejenigen, die sonst regelmäßig nach Hause zur Familie fahren, sind die aktuellen Regeln schwer zu verdauen. Ebenso natürlich auch für deren Familien“, beschreibt Kintrup die Auswirkungen des aktuell strengen Betretungsverbot der Wohnheime. Denn derzeit gilt: Wer zu seiner Familie geht, darf erst nach Aufhebung der Verbote wieder ins Wohnheim zurück.

Dementsprechend voll sind die Wohnheime: Wo sonst nur 28 Menschen mit Behinderung ganztägig betreut werden, sind nun eine Vielzahl der Bewohner an die Häuser gebunden. Die Betreuer*innen arbeiten derzeit im wöchentlichen Schichtwechsel-Rhythmus, um Übertragungswege zu reduzieren. „Wir sind froh, dass wir auf das Netzwerk unserer Einrichtungen zurückgreifen können“, zeigt sich Claudia Kintrup dankbar über die Flexibilität ihrer Mitarbeiter. Derzeit helfen Fachkräfte aus den Werk- und Förderstätten, den Heilpädagogischen Tagesstätten, den Frühförderstellen und des Inklusionsdienstes in den Wohngruppen aus: Mitarbeiter, die z.B. regulär in den Förderstätten für schwer- und mehrfachbehinderte Menschen arbeiten, fördern und pflegen nun verstärkt in den Wohnheimen. „Anders wäre der Wohnheimalltag derzeit nicht zu stemmen.“

Die Betreuer*innen und Teams der Wohnheime meistern diesen neuen Heimalltag sehr vielfältig. In Gerrits Wohnheim wurden Sportgeräte aufgebaut, Geschicklichkeitswettbewerbe zwischen den Wohngruppen durchgeführt und kräftig gebastelt. „Eine größtmögliche Konstanz soll helfen, auch in diesen nichtalltäglichen Zeiten“, schildert Wohnheimleiterin Melanie Wirth. Gerrit selbst lässt gerade oft den Fernseher aus, da es ihr viel zu viele Informationen rund um Corona sind. „Da fühle ich mich nicht wohl dabei. Da bekomme ich Angst.“

Die Geschäftsführung und der Krisenstab der Lebenshilfe Ostallgäu und der Wertachtal-Werkstätten beschäftigt sich schon länger intensiv mit dem Coronavirus. Es wird auf aktuelle Entwicklungen reagiert und Szenarien erarbeitet, z. B. für den Corona-bedingten Ausfall von Pflege- und Betreuungspersonal in größerer Zahl. Noch habe man keine Corona-Fälle in den Einrichtungen, aber über kurz oder lang werde das Virus auch mit großer Wahrscheinlichkeit die Lebenshilfe betreffen, befürchtet Geschäftsführer Klaus Prestele. „Wir können nicht abschätzen, wie stark und intensiv wir betroffen sein werden. Aber wir wissen, was dann zu tun ist.“

Trotz der vielen Einschränkungen und Unsicherheiten: Die Solidarität in den Einrichtungen zeigt sich an vielen Stellen. Mitarbeiter*innen, die sonst wohnortnah in den Werkstätten arbeiten, nehmen nun lange Anfahrtswege in Kauf, um im Wohnheim zu unterstützen. In den Werkstätten verbliebene Mitarbeiter*innen führen nun Aufträge durch, die sonst eine Vielzahl an Kollegen mit und ohne Behinderung abarbeiten. Und viele freiwillige Näherinnen versorgen die Einrichtungen derzeit mit Behelfsmasken. „Ohne Aufruf erreichen uns täglich Päckchen mit selbstgenähten Masken“, zeigt sich Claudia Kintrup überwältigt von dem Engagement in der Region.

Auch Gerrit und ihre Mitbewohner haben eine Lieferung der bunten Masken erhalten. Sie freut sich sehr über die liebevollen Textilien: „Mir fällt gerade auf, dass der Zusammenhalt von allen Menschen viel größer ist als sonst“.

Text und Foto: Johanna Zwick, Lebenshilfe Ostallgäu e.V. mit Wertachtal-Werkstätten 


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