Deutlicher als es die vergangenen Bundesregierungen dargelegt und realisiert haben, kann man es nicht mehr machen: Leistungen, die nicht zum Arbeitsmarkt führen, werden zu nachrangigen Leistungen und auf verschiedene Weise gekürzt, budgetiert. Leistungen, die auf Umwegen zum Arbeitsmarkt führen oder − wie die Ich-AG und das ALG II − nahe an ihn heran, werden an immer schärfere restriktive Bedingungen geknüpft, die an Strafen erinnern. Diese Entwicklung, den die Wissenschaftler „Kommodifizierungsprozeß“ nennen (vgl. Werkstatt:Dialog Nr. 3.2006, S.5, Bezug über die Rubrik Werkstatt:Dialog möglich), ist der Weg in die „Verarbeitnehmerung“. Er ist inzwischen in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen beschrieben und kritisiert. Er dient letztlich dazu, die Arbeitskraftreserven auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen und billiger zu machen. Die Politik bereitet sprachlich vor, sucht und findet neue Begriffe, die viel handlicher sind als die wissenschaftlichen. Sie müssen einprägsam und stammtischfähig sein. „Faule“ und „Arbeitsscheue“ hatte der letzte Bundeskanzler entdeckt und öffentlich abgekanzelt, „Betrüger“ und „Mitnehmer“ werden heute unter den ALG II-Beziehern ausgemacht. Das dadurch geschaffene öffentliche Bewußtsein macht sich inzwischen heftig Luft. Das ZDF veröffentlichte auf seinen Internetseiten, daß Zwangsarbeit gefordert wird, Sozialhilfe nur noch Alte und „wirklich“ Kranke erhalten sollen, daß von Hängemattenhaltung gesprochen wird und von „Unter-Intelligenz“. Die Gefahr ist groß, daß wir die Geister nicht mehr los werden, die man auf diese Weise ruft.
Auch Werkstattbeschäftigte unterliegen dieser gesellschaftlichen Entwicklung der „Kommodifizierung“, der „Verarbeitnehmerung“. Ihre Arbeitskraft ist zwar mehrheitlich auf dem Arbeitsmarkt gar nicht gefragt und kann selbst bei erfolgreicher Vermittlung nicht annähernd einen existenzsichernden Preis (Lohn) erzielen, dennoch postuliert die Politik immer lauter und nachdrücklicher die Eingliederung ins Erwerbsleben. Besonders aktiv und kompromißlos fordert das die behindertenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Silvia Schmidt. Noch zu DDR-Zeiten im Bezirk Halle geboren, fehlt ihr wie einigen inzwischen neu hinzugekommenen Bundestagsabgeordneten der historische Hintergrund der westdeutschen Werkstattentwicklung als Ausdruck eines neuen Demokratieverständnisses.
Mit der Entwicklung des deutschen Werkstättennetzes war eben nicht das Ziel verbunden, einen neuen Arbeitsmarkt für diejenigen zu schaffen, deren Produktivität sich mit den erwerbswirtschaftlichen Maßstäben nicht messen läßt. Vielmehr sollte ein neues Arbeitsleben entstehen, das sich vom Erwerbsleben inhaltlich und strukturell deutlich unterscheidet. Nicht der leistungsgeminderte Billigarbeiter war das Ziel, aus dem der Rest seiner Leistungsfähigkeit herausgeholt werden sollte, sondern eine neue arbeitsweltbezogene Lebensform, die für die Entwicklung der Leistungsfähigkeit und der Persönlichkeit der Arbeitenden zuträglich ist. Dieses Ziel war im Grunde typisch für die demokratiebewegten 1970er Jahre und stand in der Tradition des berühmt gewordenen Wortes von Willy Brandt von 1969: „Mehr Demokratie wagen“. So wundert es nicht, wenn sich der Souverän der Bundesrepublik, der Deutsche Bundestag, engagiert für ein neues Konzept geschützter Arbeit eingesetzt und 1974 schließlich seine „Grundsätze zur Konzeption der Werkstatt für Behinderte“ verabschiedet hatte.
Die Attraktivität der Werkstätten ist in den vergangenen dreißig Jahren ständig gewachsen, nicht zuletzt durch die Übernahme nahezu aller Schutzrechte der Arbeitnehmer, die inzwischen auch für die Werkstattbeschäftigten gelten. Die Durchsetzung der sozialen Gleichberechtigung verlangte auch die Teilhabe an der gesetzlichen Kranken und Rentenversicherung. Werkstattbeschäftigte sind aufgrund ihrer Rechtsstellung unkündbar. Sie besitzen dadurch das faktische Recht auf Arbeit und unterliegen nicht der Verpflichtung zu einer bestimmten Arbeitsleistung. Sie haben im Gegenteil Anspruch auf das gesamte wirtschaftliche Arbeitsergebnis der Werkstatt – mindestens aber von 70 Prozent. Soviel Sozialstaat war noch nie. Denn erstmals war der Staat bereit, für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mehr Geld auszugeben, als sie ihm unmittelbar einbringt. Das war solange ein wirkungsvolles Beispiel sozialstaatlicher Verantwortung, wie die Anzahl der Werkstätten in all den Jahren gering blieb und selbst nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten zunächst nur langsam zunahm.
Mit der tiefen und anhaltenden Arbeitsmarktkrise hat sich vieles verändert. Immer mehr und immer größere Bevölkerungsteile finden keinen Zugang mehr oder bedürfen der staatlichen Subventionierung ihrer Arbeitskraft, um auf dem Arbeitsmarkt überhaupt Chancen zu bekommen. Zum einen verweisen Sozialhilfeträger immer energischer auf die damit für sie steigenden Kosten. Im Zusammenhang mit dem wachsenden Zuspruch für die Werkstätten nimmt deren Anzahl an Werkstattplätzen besonders seit fünf Jahren zu. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich ihre Zahl von 1994 bis 2004 von rund 153.000 auf fast 246.000 erhöht. Das sind 93.000 Werkstattplätze mehr, ein Zuwachs von 60 %. Zeitgleich mit dieser Entwicklung werden dringend zusätzliche Finanzmitteln benötigt, um neue arbeitsmarktpolitische Instrumente zu finanzieren oder die vorhandenen attraktiver zu gestalten. Gleichzeitig wächst die Nachfrage nach Arbeitsplätzen außerhalb der Erwerbswirtschaft, weil immer mehr Bevölkerungsgruppen immer weniger Beschäftigungschancen haben. Die Ein-Euro-Jobs sind Ausdruck dieser Entwicklung. Rund 249.000 bestanden zu Jahresbeginn 2006. Auch die Integrationsprojekte haben einen wachsenden Bedarf an staatlichen Zuwendungen. Zuschüsse an sie aus Ausgleichsabgabemitteln der Integrationsämter sind von rund 31 Mio. Euro im Jahr 2003 auf 53 Mio. Euro im Jahr 2004 gestiegen.
Seit der Arbeitsmarkt Milliarden Euro verschlingt und die Hoffnungen größer sind als die Erfolge, werden alle sozialstaatlichen Leistungen für behinderte Menschen auf ihre Amortisation hin überprüft. Ausgaben zur Teilhabe am Arbeitsleben müssen dazu führen, daß der Weg über den Arbeitsmarkt ins übliche Erwerbsleben führt. Das Erwerbsleben wird zum alleinigen Maßstab. Die Sozialleistungen müssen sich entweder durch Erwerbsarbeit und damit Steuern und Sozialabgaben längerfristig refinanzieren. Oder sie müssen einen Anpassungsfaktor beinhalten, der ihre Kürzungen zuläßt − wie beim ALG II. Noch besser für die Haushälter in den Behörden ist es, wenn die Leistungen gar keine gesetzlichen Pflichtleistungen sind. Dann sind Kürzungen und Streichung leichter möglich, wie an der Finanzierung der Tagesförderstätten deutlich wird, die eine immer größer werdende Nachfrage befriedigen müssen.
In solchen Zeiten, in denen zahlreiche arbeitsmarktpolitisch benachteiligte Arbeitnehmergruppen miteinander konkurrieren, haben jene an Arbeit Interessierte keine Erwerbschancen, deren Leistungsfähigkeit für die Erwerbswirtschaft nicht ausreicht. Dazu zählt der größte Teil der Werkstattbeschäftigten. Für sie ist die Werkstatt aber nicht einfach ein mehr oder weniger angepaßter Arbeitsplatz außerhalb des allgemeinen Arbeitsmarktes, nicht ein leistungsreduziertes Erwerbsleben, nicht die von Politikern immer wieder behauptete ultima ratio. Es wäre falsch, Werkstätten quasi an den unteren Rand des Erwerbslebens anzuhängen oder sie mit einem verlangsamten, anspruchsgeminderten Erwerbsleben gleichzusetzen. Sie sind nicht der zweite Arbeitsmarkt, auf dem leistungsgeminderte Menschen ihre Arbeitskraft zu billigeren Preisen anbieten. Statt dessen sind sie eine neue Form von Arbeitsleben, in dem Arbeiten und Lernen, Förderung und Entwicklung dem erwirtschafteten Arbeitsergebnis zumindest gleichwertig sind.
Darum sind Werkstattbeschäftigte für uns nicht mit schwerbehinderten Arbeitnehmern gleichzusetzen: Sie können gegenüber der Werkstatt den höheren und größeren Anspruch auf Leistungen erheben als die Werkstatt an sie stellen kann. Ihre Mit-Arbeit und ihr Arbeitsergebnis sind vertraglich nicht zu quantifizieren. Es dient einem anderen Zweck als die Mitarbeit von Arbeitnehmern in der Erwerbswirtschaft. Letztere haben ein fremdes Werk in fremdem Auftrag zu verrichten und für ihre vertraglich vereinbarte Leistung Anspruch auf eine vertraglich vereinbarte Gegenleistung in Geld − Lohn oder Gehalt. Werkstattbeschäftigte aber haben Anspruch auf das gesamte wirtschaftliche Ergebnis der Werkstatt, ausnahmsweise auf mindestens 70 %, wenn die anderen 30 % rechtsnormgemäß verwendet werden. Vor allem aber haben sie Anspruch auf Werkstattleistungen, auf die Anpassung der Arbeit und Arbeitsbedingungen an ihre individuellen Möglichkeiten, auf einen Förder , Entwicklungs und Bildungsinhalt in der Arbeit durch deren Umwandlung in Werkstattarbeit, auf arbeitsbegleitende Maßnahmen während des Arbeitsvorgangs.
Wer Werkstattleistungen nicht benötigt, sondern einen Arbeitsplatz sucht und prinzipiell auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch tätig sein kann, wäre in den Werkstätten falsch plaziert. Die Verantwortung der Werkstattträger und -leitungen gegenüber unserem Sozialstaat besteht genau darin, die Werkstätten nicht zur arbeitsmarktpolitischen ultima ratio werden zu lassen, als letzte Rettung für arbeitslose und behinderte Arbeitnehmer. Werkstätten haben eine andere Aufgabe als die, Arbeitsplätze für alle bereitzustellen, die erwerbstätig sein könnten, aber keine Chance dazu bekommen. Für sie müssen andere Lösungen gefunden werden − z. B. Integrationsbetriebe.
Günter Mosen, Vorsitzender der BAG WfbM und Ulrich Scheibner, Geschäftsführer der BAG WfbM