Politik 09.02.05
Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit
"Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit. Soziale Standards - sichern, anpassen oder reduzieren?" Das ist der Titel eines Referats von Pfarrer Dr. h.c. Jürgen Gohde, Präsident des Diakonischen Werks der EKD. Dr. Gohde gestattete uns freundlicherweise die Veröffentlichung seiner Ansprache auf der Präsidiumssitzung der BAG WfbM in Kassel im Juli 2004.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich will meinen Ausgangspunkt nehmen bei einem Interview, das Hemjö Klein dem Wirtschaftsmagazin brand eins gegeben hat (Nr. 6/ 2004, 64-68). Sein Titel: "Die Freiheit zu dienen". Ohne ein einziges Mal von Gott zu reden, entfaltet er diesen einen Satz, der frühere Vorstand von Neckermann, der Deutschen Bahn, der Lufthansa. Er beschreibt plausibel die Bedingungen für die Veränderung einer Dienstleistungsmentalität und steckt damit das Terrain ab, in dem sich unternehmerische Diakonie zu bewegen hat.

Er nennt die Voraussetzungen: den pfleglichen Umgang mit Kerntugenden: Disziplin, Verantwortungsbewußtsein, Zielstrebigkeit. Er zeichnet das Bild vom dienenden Staat, der den verbindlichen Rahmen für Vielfalt, Recht, Schutz und Freiheit schafft.

Der Leitsatz heißt: Nicht tun zu müssen, was ich nicht möchte. Er ist die Basis von Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl.

Sein Ziel: Die Veränderung der Dienstleistungsmentalität. "Nicht die Funktion, sondern der Mensch und sein Selbstbewußtsein sind entscheidend" (a.a.O., 66). Reden und Handeln, Leben auf Augenhöhe.

Auf die Frage, warum das so schwierig sei, kommt eine einfache Antwort: "Wir sind zwar Weltmeister im Leisten, aber nicht im Dienen. Dienen hat bei uns keine gesellschaftliche Relevanz und keine persönliche Attraktivität. Dienen gilt als etwas, was wir glücklicherweise überwunden haben."(66) Freilich: "Wer persönlich in der Lage ist, dienstbar zu sein, und wer das als eine erstrebenswerte Aufgabe ansieht, für den ist die Zukunft im Grunde ein Traum … Menschen dienlich zu sein, Freude zu bereiten, das ist nicht nur ein Beruf, das kann auch ein gesellschaftlicher Faden durchs Leben sein. Und Freude machen." (A.a.O., 66)

Ohne ein einziges Mal von Gott zu reden: die Freiheit zu dienen. Kann das auch Leitbild für eine moderne Diakonie sein, die in einer Situation des wettbewerblichen Dialogs ihr Eigenes anbietet? Im Dialog mit Kostenträgern über Qualität und Preis, im Dialog mit Bewohnerinnen und Kunden über ihre Zufriedenheit, im Dialog mit den Mitarbeitenden, die sich eigentlich gar nicht mehr so verstehen dürften, sondern selbst als Mit-Unternehmer betrachten könnten?

Die Freiheit zu dienen: nicht länger ein weicher Faktor - sozusagen das diakonische Sahnehäubchen - sondern ein Erfolgskriterium sozialer Dienstleistung, nicht soft, sondern hard skill, anders gesagt: Managementverantwortung von Vorständen und Aufsichtsgremien.

Ich bin sicher, es würde unserer Gesellschaft insgesamt gut tun, in diese Richtung zu denken. Das in jeder Mangelsituation auftauchende Gerede über Pflichtdienste würde aufhören, Fordern und Fördern würden anders klingen, Dunkelkammerdiskussionen in Vermittlungsausschüssen wären nicht mehr nötig, es wäre nicht notwendig, zuzulassen, daß z. B. Pflegemaßnahmen zum Schnäppchenpreis angeboten werden oder der Kunde zwar als König geködert wird, aber sich das Notwendige nicht leisten kann. Reformen brauchen einen Mentalitätswechsel. Alle wissen: Es ist Zeit für neue Ideen.

Dennoch leiden die meisten Menschen in unserem Lande daran, daß die Diskussion um die Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme so phantasielos und ängstlich geführt wird.

Den meisten Menschen ist auch bekannt, daß die sozialen Sicherungssysteme nicht nachhaltig finanziert sind und deshalb angesichts der irreversiblen Risiken der Demographie und des Arbeitsmarktes nicht ausreichend in der Lage sein werden, Sicherheit zu geben, nicht in der Lage sind, Armut auszuschließen oder ein Leben trotz Pflegebedürftigkeit würdevoll führen zu lassen, und auch keine Integration in den Arbeitsmarkt garantieren können. Nationalstaatliche Eingriffe sind angesichts der Globalisierung der Wirtschaft in ihrer Wirksamkeit beschränkt.

Es ist nicht länger Zeit für Selbstbeschäftigung und Stillstand. Es kann nicht angehen, daß Vorschläge bis sie Entscheidungsreife erlangt haben bis zur Unkenntlichkeit zerredet werden zwischen Zaghaftigkeit, Ängstlichkeit und eigenen Interessen.

Dies gilt in gleicher Weise für die Agenda 2010, die Rürup-Vorschläge, das Herzog-Papier, Vorschläge zur Steuerreform, aber auch für die Diskussion um die Organisation und Weiterentwicklung unserer eigenen Organisationen.

Sie haben mir die Frage gestellt, ob die derzeitige Sozialpolitik eher eine Politik der Kürzungen sozialer Leistungen oder des Leistungsumbaus ist. Über diese Frage läßt sich sicher trefflich streiten und das geschieht auch sowohl in der politischen Auseinandersetzung als auch im Blätterwald der verschiedenen Gazetten oder an den Stammtischen.

Einer Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes vom Mai 2004 zu den Kommunalfinanzen des Jahres 2004 (basierend auf den Daten der kommunalen Haushaltsansatzstatistik im Jahr 2004) ist zu entnehmen, daß sich nach den Haushaltsansätzen der Gemeinden die sozialen Leistungen am stärksten erhöhen nämlich um 6,5 % auf 32,4 Mrd. Euro, während z. B. die kommunalen Personalausgaben auf dem Vorjahres-Niveau verharren und die Einnahmen sich vermutlich um 1,4 % reduzieren werden.

Haben wir es mit einer Politik der Kürzungen sozialer Leistungen oder des Leistungsumbaus zu tun - wie Sie fragen?

Ob uns das Suchen nach einer Antwort auf diese Frage, die eher akademisch anmutet, tatsächlich weiterbringt, wage ich zu bezweifeln, besteht doch die Gefahr, daß das Nachdenken über diese Frage stecken bleibt in einer Nabelschau und einem Beklagen der immer schlechter werdenden Verhältnisse. Verspielt werden könnte dabei der eigene Einfluß, die Zukunft mit zu gestalten. Das Thema ihrer Klausursitzung "Sozialstaat und soziale Gerechtigkeit. Soziale Standards - sichern, anpassen oder reduzieren?" könnte das Mißverständnis aufkommen lassen, daß es vorrangig um die Bewahrung des Erreichten geht. Gegebenenfalls müssen einige Abstriche gemacht werden, weil das benötigte Geld nicht mehr zur Verfügung gestellt wird. Ich denke aber, daß dies von Ihnen nicht so gemeint war. Eine große Organisation wie die BAG WfbM ist kompetent und in der Lage, soziale Standards für ihr Betätigungsfeld mit zu gestalten und weiterzuentwickeln. Dazu braucht es Kompetenz, Mut, Kreativität, Gestaltungswillen, klare ethische Fundierung und auch Risikobereitschaft.

Der Blick zurück auf das, was wir erreicht haben, mag uns vielleicht mit Stolz erfüllen. Die Zukunft wird damit aber nicht gestaltet. Wir sollten uns bewußt sein:

Es gibt keine Garantien mehr.

Es gibt überhaupt keine Garantien. Wir haben uns auf eine Mangelsituation im Reichtum einzustellen.

Es gibt keine Garantie für die zukünftige Gestaltung des Prinzips des bedingten Vorrangs der Träger der Freien Wohlfahrtspflege. In jeder Gesetzesnovelle - diesmal im Rahmen des SGB II - muß es erneut erkämpft werden. Es ist nicht, wie immer fälschlich behauptet wird, Brüssel, das uns nötigen würde, das Gemeinnützigkeitsprivileg aufzugeben. Zerstört wird das Prinzip von uns selbst, indem die Partnerschaftsfähigkeit der Kommunen ausgehöhlt wird und dadurch, daß wir uns nicht Vorrang konform verhalten.

Es gibt keine Garantien mehr für Gewohnheitsrechte und bestimmte ausdifferenzierte Hilfeformen. Wer Autonomie will, muß erhebliche Anstrengungen zur Stärkung ehrenamtlichen und freiwilligen Engagements übernehmen.

Wir können uns entscheiden, zunehmend bedeutungslos und nutzlos zu werden oder aber das Vertrauen der Menschen in eine kirchliche Diakonie, die Freie Wohlfahrtspflege und die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen als Verpflichtung verstehen und aufnehmen.

Unsere sozialstaatliche Diskussion krankt nicht nur daran, daß sie die ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht ausreichend betrachtet hat, sie krankt auch daran, daß sie den Sinn-Horizont des menschlichen Lebens nicht erreicht. Ohne das Wissen vom Menschen, wie er geht und steht, ohne Respekt vor seinem Leben läuft jede Reform ins Leere. Sie geht das Risiko ein, das Überschießende, Befähigende, auch das Herausfordernde des wirklichen Lebens nicht zu sehen.

Eine Gesellschaft, die Geld Haben als letzten Wert prämiert, aber keine gerechte Grundversorgung von Familien mit Kindern, von pflegebedürftigen Menschen, oder von Menschen mit Behinderungen sicherstellen kann, bietet keinen Halt.

Wie viel Respekt brauchen Menschen mit Behinderungen?

Wie viel Freiheit sind wir bereit, Heimbewohnern, Ratsuchenden oder Mitarbeitern in den Werkstätten einzuräumen?

Wie lassen sich unternehmerische Aufgaben von Werkstattträgern und damit die Pflicht zum Risiko und anwaltschaftliches Handeln zusammenhalten?

Diakonie, Freie Wohlfahrtspflege und die BAG WfbM haben deshalb die Pflicht, herkömmliche Arbeitsformen und prinzipielle Ausrichtungen der Arbeit zu überprüfen, Strategien anzupassen, weiterzuentwickeln und zu ändern.

In allen gegenwärtigen Reformgesetzen - egal, ob es sich um die Zusammenlegung der Arbeitslosen und Sozialhilfe, die Gesundheitsreformgesetze und die Pflegeversicherung handelt, ist eine zunehmende Betonung von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung wahrzunehmen. Damit wird nicht nur das Ende einer bevormundenden Betreuungskultur angezeigt, es ist auch das im europäischen Kontext gut vermittelbare Leitbild einer sozialen Bürgergesellschaft sichtbar, das zu einer grundlegenden Überprüfung von Versorgungsformen, Arbeitskonzeptionen aber auch Rechtspositionen nötigt, die Grundsätze und Rahmenbedingungen diakonischen Handelns beeinflussen. Sie betreffen nicht nur das Verhältnis von Wettbewerb und Sozialschutz, Geld und Sachleistungen, sondern auch grundlegende Gestaltungsoptionen wie die Prinzipien des Bundessozialhilfegesetzes, wie Personalität, Gerechtigkeit, Subsidiarität und Solidarität.

Hilfe, die einem anderen Menschen gewährt wird, soll seine Selbsthilfekräfte, sein Vermögen zum Wählen und Entscheiden stärken und fördern. Insofern zielt das Bundessozialhilfegesetz auf die Stärkung eigener Verantwortung. Es sind allerdings nicht nur humanistische Anliegen, die in der gegenwärtigen Situation zu einer Veränderung asymmetrischer Hilfeverhältnisse führen, sondern das an sich durchaus verständliche und rationale Interesse, Kosten zu sparen. Dieser Ziel- und Interessenskonflikt verlangt auf verschiedenen Ebenen eine sorgfältige Bearbeitung:

Wer im Wettbewerb erfolgreich sein will, muß sich inhaltlich und kommunikativ unterscheiden, unverwechselbar, einzigartig sein und - dies sage ich für die Diakonie - die christliche Wertbindung ins Zentrum rücken, für die er steht. Dazu ist es aber nötig, den diakonischen Auftrag jeweils neu zu "buchstabieren". Entsprechendes gilt natürlich auch für die Werkstätten und ihre BAG.

Unsere Aufgabe ist es, unproduktive Entgegensetzungen von z. B. anwaltschaftlicher und unternehmerischer Diakonie oder Werkstätten als Wirtschaftsunternehmen oder Rehabilitationseinrichtung mit anwaltschaftlichem Auftrag zu vermeiden. Beide Ansätze haben ein und denselben Auftrag. Sie treffen sich in der Wahrnehmung des Wunsches nach Befähigung und Freiheit von Menschen. Unser Ziel muß darin liegen, Menschen zur Realisierung ihres Wahlrechts Möglichkeiten zu eröffnen. Gemeinsam sind beiden Respekt und Anerkennung der Person und der Versuch, lebensfeindliche Risiken zu begrenzen. Für beide gelten Bedingungen des Marktes mit einer unterschiedlich ausgeprägten Souveränität der Hilfesuchenden.

In diesem Kontext treffen deren Interessen auf die von Institutionen und tradierten Rollen; hier muß ein Ausgleich gesucht werden und ein Rahmen gestaltet und erhalten werden, der Teilhabe- und Zugangsrechte gewährleistet.

Wir können uns keine falschen Alternativen leisten.

Deshalb müssen nicht nur die Grundorientierung des Bundessozialhilfegesetzes wie Personalität, Subsidiarität, Solidarität und Gerechtigkeit von neuem bedacht werden, sondern auch z.B. das Diakonische Motto "stark für Andere". Dieses Motto ist keine abgrenzende Kampfklausel. Es sichert, daß wir nicht eigennützig und egozentrisch handeln, es hält den Einspruch Gottes gegen ungerechtes Leben wach, es bewahrt den Respekt vor der Souveränität der Menschen. Es wird lebensfeindlich, wenn es entmündigend oder gegen unternehmerisches Handeln gestellt wird.

"Stark für Andere" kann unter den veränderten Bedingungen nur heißen: Wir machen andere stark, ihre Freiheit zu gebrauchen, ihre Rechte zu nutzen, ihre Kräfte gegen eigene und fremde Ausgrenzung einzubringen und Verantwortung zu übernehmen.

Stark für Andere in diesem Sinn wird allerdings nur der Träger bleiben, der die Risiken der gegenwärtigen Lage annimmt. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen und ethische Orientierung bedingen einander. Für manchen steckt in dieser Bedingung ein Dilemma, nämlich die Frage, wie wirtschaftlicher Erfolg und christliche Motivation oder ethische Ausrichtung im Alltag zusammen gehen sollen. Wir befinden uns in einem Laboratorium.

Neue Arbeitskonzepte sind zu entwickeln.

Auf der Ebene des pädagogischen Konzepts muß geklärt werden, wie der Hilfebedarf des einzelnen Menschen, der als Bürger selbstverantwortlich auftritt, gemeinsam mit ihm entwickelt werden kann. Wie kann Selbstbestimmung und Mitwirkung im Alltag der Werkstätten gelebt werden. Selbstverständlich müssen die Vorschriften der Mitwirkungsverordnung angewandt werden. Aber genügt dies? Vor kurzem wurde die diakonische Mitwirkungsverordnung verabschiedet und in Kraft gesetzt. Sie geht einen Schritt weiter als die staatliche Mitwirkungsverordnung und sieht auch in Betriebsstätten Werkstatträte vor. Darüber hinaus wird Beschäftigten in der WfbM in einigen Punkten echte Mitbestimmung (nicht nur Mitwirkung) zugestanden. Die Evangelische Kirche hat hier von ihrer Rechtsetzungsautonomie Gebrauch gemacht, um Mitarbeitern in den Werkstätten mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen. Das Präsidium der BAG WfbM hat im Juni vergangenen Jahres diese Weiterentwicklung der Mitwirkungsverordnung begrüßt und den Vorstand der BAG gebeten, sich bei dem zuständigen Ministerium für eine Weiterentwicklung der Staatlichen Mitwirkungsverordnung zu verwenden. Ich bin gespannt, wie weit Sie mit diesen Bemühungen inzwischen gekommen sind.

Eine ständige Frage ist die nach bezahlbarer Qualität, des Umfangs angemessener (notwendiger) Hilfen und belastbarer Rechtspositionen auf betrieblicher Ebene. Angesicht knapper werdender finanzieller Mittel kommt dem effektiven und effizienten Einsatz verfügbarer Finanzmittel hohe Bedeutung zu. Ein Aspekt sozialer Gerechtigkeit ist, diese Verantwortung wahrzunehmen. Rehabilitationsträger haben in jüngster Zeit versucht, ihrer Verantwortung für einen sparsamen und wirtschaftlichen Einsatz von Finanzmitteln über das Instrument von Ausschreibungen wahrzunehmen, ein aus unserer Sicht hochproblematischer Weg. Ein Instrument, das im gewerblichen Bereich durchaus zu den gewünschten Ergebnissen führt, kann im sozialen Bereich die Versorgungsstrukturen zu Lasten von Menschen mit Behinderungen zerstören.

Auch neue Förderkonzepte wie z. B. das BVB-Konzept (Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen) der BA, das die bisherigen sog. F-Lehrgänge ablöst, können, wenn sie die spezifischen Förderbedarfe von Menschen mit Behinderungen nicht genügend berücksichtigen, Menschen mit Behinderungen benachteiligen, Ihre Chancen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einschränke, da auch Werkstattträger F-Lehrgänge angeboten haben, waren Sie sicher in diese Diskussionen miteinbezogen, so daß ich hier nicht näher darauf eingehen muß.

Die Problematik solchen Handelns muß sowohl politisch Verantwortlichen wie auch den Rehaträgern verdeutlicht und um bessere Lösungen gerungen werden. Unser Einsatz hat durchaus erste Erfolge erzielt. So hat sich z. B. das Verwaltungsgericht Münster weitgehend die Argumentation des von Diakonie und Caritas in Auftrag gegebenen Gutachtens von Prof. Neumann zu eigen gemacht. Dem Einsatz der BAG BBW ist es zu verdanken, daß das BVB-Konzept der BA wesentlich ausdifferenziert wurde hinsichtlich der Belange von Menschen mit Behinderungen und daß Maßnahmen, die in BBWs oder BFWs durchgeführt werden nicht in Ausschreibungen einbezogen wurden. Nach einer vor wenigen Tagen durchgeführten Umfrage der BAG BBW liegen die Anmeldungen von Rehaträgern für berufliche Erstausbildung in diesen Einrichtungen um 5% über denen des Vorjahres.

Sozialer Abbau oder Umbau des Sozialstaates?

Um neue fachgerechte Lösungen, um Rechtspositionen muß ständig mit allem Einsatz gerungen werden. Und dieser Einsatz bleibt nicht ohne Wirkung.

Die veränderte Sicht des Einzelnen verlangt von der jeweiligen Einrichtung den Einsatz für die Ausgestaltung eines persönlichen Budgets als Ausdruck der in der Subjektstellung erkennbaren Freiheit. Mit diesen Fragen sind auch die Werkstätten konfrontiert. Ich bin sicher, daß in ihrer großen Organisation auch über diese Fragen diskutiert, gestritten und gerungen wird, und ich bin gespannt, zu welchen Ergebnissen Sie bereits gekommen sind.

Mit der Einführung Persönlicher Budgets wird nicht nur Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen gestärkt. Es wird auch - darauf hat insbesondere Prof. Neumann hingewiesen - das sog. sozialrechtliche Dreieck aufgelöst und damit dieser Sozialleistungsbereich in Richtung Markt weiterentwickelt. Solange Sozialleistungen im Rahmen des sog. sozialrechtlichen Dreiecks erbracht werden, kann zwar Wettbewerb zwischen Einrichtungen und Diensten bestehen, eine Markt besteht jedoch nicht, die Strukturverantwortung haben die Rehabilitationsträger. Dies ändert sich bei Nutzung Persönlicher Budgets. Markt setzt aber gleichberechtigte Partner voraus und keine asymmetrischen Beziehungen zwischen Leistungsanbietern und Leistungsnachfragern. Wer wird den Verbraucherschutz übernehmen? Im Rahmen des Modellprogramms Pflegebudget (nach § 8 SGB XI) stehen Verbraucherzentralen, Betreuungsbehörden, Beratungsstellen oder Medizinische Dienst der Krankenkassen zur Auswahl. Wer wird die Patientensouveränität am ehesten stärken? Wer wird diese Aufgabe bei einem Budget "Teilhabe am Arbeitsleben" übernehmen? Wird weiterhin die Beschäftigung in einer WfbM in der bisherigen Art und Qualität nachgefragt werden? Sind daneben nicht alternative Angebote verstärkt zu entwickeln? Dies sind Herausforderungen an Träger von Werkstätten, die Kreativität, Mut, Unternehmertum und Bereitschaft zum Risiko erfordern.

Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit läßt sich nicht reduzieren auf das Problem der Verteilung von materiellen oder finanziellen Ressourcen. Das Erkämpfen von Menschen- und Bürgerrechten, die Ermöglichung von echten Teilhabechancen oder die Befähigung, ein Leben so selbstbestimmt wie möglich zu führen, eigene Lebensentwürfe zu entwickeln und an ihrer Gestaltung mitzuwirken, Beseitigung von Benachteiligungen und Barrieren sind wesentliche Aspekte der Ausgestaltung eines sozial gerechten Gemeinwesens.

Die BAG WfbM hat in jüngster Zeit (zusammen mit den Fachverbänden und der BA) einen bahnbrechenden, ja historisch zu nennenden Beitrag geleistet. Menschen mit Behinderungen, die nicht auf dem allgemeinen Arbeit beschäftigt werden können, war bisher der Zugang zu beruflicher Bildung abgeschnitten. Bildung - auch berufliche Bildung - ist aber ein grundlegendes Menschenrecht. Die BAG WfbM hat zusammen mit Wohlfahrtverbänden und Fachverbänden erreicht, daß das Recht auf berufliche Bildung gesetzlich verankert wurde und sie hat mit dem Projekt aktionbildung gezeigt, wie dieses Recht eingelöst werden kann. Die BAG WfbM hat damit nicht nur ihren satzungsmäßigen Auftrag "Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und beruflichen Bildung der Beschäftigten" (nach § 2 der Satzung der BAG WfbM) erfüllt. Sie hat damit auch Menschen mit Behinderungen einen Teil ihrer Würde zurückgegeben.

Ich bin dankbar dafür, daß die BAG WfbM entschieden hat, die aktionbildung fortzuführen und sie zu ihrer Aufgabe gemacht hat. Ich möchte Sie ermutigen auf diesem Wege weiterzugehen. Wie steht es um das Recht auf berufliche Bildung für Menschen in den Tagesförderstätten? Haben sie nicht auch ein Anrecht darauf? Die Erfolge der aktionbildung haben den Ruf laut werden lassen, auch Tagesförderstätten als Orte der beruflichen Bildung auszugestalten (siehe Artikel von Mathias Westecker in Geistige Behinderung, Juli 2004,S. 270 - 283). Dazu braucht es die Entwicklung von Konzepten, Methoden, Arbeitshilfen und Materialien. Wenn es der BAG WfbM gelingt, berufliche Bildung im Alltag der Tagesförderstätten zu verankern, hat sie einen weiteren bedeutsamen Beitrag zum Abbau von Bildungsbarrieren, zur Beseitigung von Benachteiligungen und zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit geleistet.

Soziale Gerechtigkeit ist nicht etwas Statisches. Soziale Gerechtigkeit muß ständig neu bestimmt, erkämpft und ausgestaltet werden. Dazu braucht es angesichts gewandelter Verhältnisse und neuer gesellschaftlicher Herausforderungen neuer Ideen, Gestaltungswillen, Mut und Kreativität. Das bloße Beharren auf bisher Erreichtem und dessen Sicherung, das Fordern von Mehr von dem Gleichen führt in die Irre.

Fundament der Ausgestaltung des Sozialstaates, der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit ist eine klare ethische Ausrichtung, sei es nun die christliche Glaubensüberzeugung oder eine humanistische Ethik.

Ein Gemeinwesen sozial gerecht zu gestalten, heißt auch, vorhandene Angebote zu hinterfragen, neu zu bestimmen und neu zu denken.

Die BAG WfbM hat dies in der Vergangenheit getan und einen bedeutsamen Beitrag zur sozialen Ausgestaltung unseres Gemeinwesens geleistet. Ich bin überzeugt, daß dies auch in Zukunft so bleiben wird. Und Ihr Einsatz wird sich lohnen. Dafür möchte ich Ihnen ganz herzlich danken.


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