Jeder weiß, daß die Folgen der „Agenda 2010“ vorauszusehen waren. Zahlreiche Wirtschafts und Sozialexperten haben vor dieser Entwicklung gewarnt. Ganz besonders deutlich war der Sozialethiker, Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach, ein konsequenter Vertreter der katholischen Soziallehre: „Das ist keine Reform, sondern eine Reform Inszenierung, ein politisches Spektakel, entwürdigend und die Gesellschaft spaltend.“ Und Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, schreibt: „Die Menschenfeindlichkeit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ein wichtiger Grund ist die Umverteilung von unten nach oben.“ In seiner Darlegung über die nachlassende Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft und die wachsende Gewalt verlangt er, daß dieses Entwicklung endlich politisch thematisiert wird: „Daher ist es eine der wichtigsten Aufgaben, die soziale Desintegration auf die politische Agenda zu heben. Sie ist für die Gesellschaft zerstörerisch.“
Wem stünde die Aufgabe, die Spaltung unserer Gesellschaft in immer mehr arme und immer weniger, aber immer reichere Menschen als ungerecht anzugreifen, besser an, als unserem Bundespräsidenten? Diese Chance hat Horst Köhler noch nicht ergriffen. Statt dessen erfreute er kürzlich das Arbeitgeberforum mit seinem Ruf nach einer „Ordnung der Freiheit“ und behauptete von der Bundesrepublik, daß „die Ordnung im Niedergang“ wäre, die früher „Leistung ermutigte und sozialen Fortschritt brachte“. Ausdrücklich betonte er: „Demokratie und Marktwirtschaft setzen sich immer weiter durch. Wir freuen uns darüber.“
Ich würde mich mehr freuen, wenn sich mehr Demokratie und weniger Marktwirtschaft durchsetzen würden. Denn der Markt, das muß der Bundespräsident als Wirtschaftsfachmann wissen, „gewährleistet nicht soziale Gerechtigkeit, geschweige denn die Freiheit des Menschen; diese müssen nach einer Hierarchie der wirklichen Werte mit Blick auf das Gemeinwohl ausgerichtet werden“, hinterläßt uns der jüngst verstorbene Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Centesimus annus“.
Auch mit den wichtigsten fünf gesellschaftlichen Grundprinzipien, die unser Präsident vor Unternehmern als zentrale hervorgehoben hat, kann ich mich nicht so recht anfreunden: „Privateigentum und Vertragsfreiheit, Wettbewerb und offene Märkte, freie Preisbildung“. Erst im zweiten Anlauf nähert er sich dann den sozialen Maßstäben an: „eine Sicherung vor den großen Lebensrisiken für jeden“. Mit dem Grundgesetz lassen sich diese „marktradikalen Bekenntnisse“, wie der Sozialexperte Hengsbach das nennt, nicht so leicht begründen. Die Eigentumsgarantie im Artikel 14 ist an die Pflicht geknüpft, daß es „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit“ dient. Davon sind wir angesichts der Fakten im „Armutsbericht“ weit entfernt.
Millionen Menschen haben dem verstorbenen Papst die letzte Ehre gegeben. Viele von ihnen waren bei der Beisetzung in Rom dabei. Darunter auch der deutsche Bundespräsident und der Bundestagspräsident. Da ist es für Sozialexperten, zu denen ich mich auch zähle, sinnvoll und geradezu verpflichtend, auf die sozialpolitische Hinterlassenschaft Johannes Pauls II. zu verweisen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung formulierte das Anfang April besonders treffend: Der Papst wurde in den vergangenen Jahren „zunehmend unduldsamer gegen den ‚Kapitalismus pur’. Ihn verstörte, daß nun ‚das Kapital’ als solches, der Mammon, die reine Lehre vom globalen Markt und von unerbittlicher Konkurrenz ihren Siegeszug über die Welt und die gesamte Menschheit aufnehmen sollte. Das widersprach der Soziallehre der Kirche.“ Und die Zeitung zitiert aus den Sozialenzykliken unter anderem den Satz: „Der Mensch ist nicht für die Wirtschaft da, sondern die Wirtschaft für den Menschen.“
In der Agenda 2010, die der Bundespräsident als Schritt in die richtige Richtung bewertete, und in seinen eigenen Bekundungen findet man diesen Gedanken nicht. Um so wichtiger, daß er nicht verloren geht. Nicht nur für die Bevölkerungsgruppen, denen wir Teilhabe am Arbeitsleben ermöglichen, ist es unverzichtbar, daß die Wirtschaft dem Menschen diene. Es war übrigens der von unserem Bundespräsident gern zum Kronzeugen gegen angeblich zu hohe Lohn und Lohnnebenkosten aufgerufene Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, der das Ziel „Wohlstand für alle“ formuliert und in seinem gleichlautenden Buch beschrieben hatte.
Wir Werkstattfachleute sollten uns nicht scheuen, den immer öfter beschworenen Geist des „freien Marktes“ als das aufzudecken, was er ist: eine Spukgestalt in den Köpfen von Marktpropheten.
Günter Mosen