Knapp zwei Jahre nach dem ersten Entwurf der Europäischen Kommission ist das Verfahren um eine Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union (EU) beendet worden. Die sogenannte Mindestlohn-Richtlinie wurde am 25. Oktober im Amtsblatt der EU veröffentlicht. Inwiefern die neue Richtlinie auch Auswirkungen auf die Debatte um eine Reform des Entgeltsystems in Werkstätten haben wird, ist jedoch derzeit noch offen.
Denn Richtlinien der EU gelten nicht unmittelbar. Sie müssen von den Mitgliedsstaaten erst in jeweiliges nationales Recht umgesetzt werden beziehungsweise bereits bestehende nationale Gesetze angepasst werden, wenn dies erforderlich ist. Dafür haben die Mitgliedsstaaten der EU einen Regelungsspielraum und ab dem Tag der Verkündung einer Richtlinie in der Regel zwei Jahre Zeit.
Inhalt der Mindestlohn-Richtlinie
Die Richtlinie legt kein gemeinsames europäisches Mindestlohnniveau fest und er verpflichtet die Mitgliedstaaten auch nicht zur EU-weiten Einführung gesetzlicher Mindestlöhne.
Ziel der Mindestlohn-Richtlinie ist es vielmehr, Arbeitnehmer*innen in der EU durch angemessene Mindestlöhne am Ort ihrer Arbeit einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen und ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die neue Mindestlohn-Richtlinie gibt vor, wie gesetzliche Mindestlöhne festgelegt, aktualisiert und durchgesetzt werden sollen. Außerdem ist vorgesehen, dass die EU-Mitgliedsstaaten Aktionspläne aufstellen, um die Tarifbindung zu steigern, wenn deren Quote unter 80 Prozent liegt.
Wo es, wie in Deutschland, allerdings bereits einen Mindestlohn gibt, sollen bestimmte Regelungen gelten.
Wer erhält den Mindestlohn laut der neuen Richtlinie?
So müssen dort, wo Mindestlöhne gelten, diese für alle Arbeitnehmer*innen „die nach den Rechtsvorschriften, Tarifverträgen oder Gepflogenheiten in dem jeweiligen Mitgliedstaat einen Arbeitsvertrag haben oder in einem Arbeitsverhältnis stehen, wobei die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu berücksichtigen ist“ angewandt werden.
Ausnahmen kann es für bestimmte Gruppen geben, die die Mitgliedsstaaten selbst definieren dürfen, wobei die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit einzuhalten sind.
Vor diesem Hintergrund könnte ein Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) aus dem Jahr 2015 interessant sein: Damals wurde im Fall einer französischen Werkstatt entschieden, dass die dortigen Werkstattbeschäftigten im Sinne des EU-Rechts als Arbeitnehmer*innen anzusehen seien, obwohl sie keine Arbeitsverträge haben (EuGH, Urt. V. 26.03.2015, C-316/13 (Rs. Fenoll)).
Mindestlohn in Werkstätten
Die Besonderheit von „geschützten Beschäftigungsverhältnissen“, zu denen auch Werkstätten zählen, wird in den sogenannten Erwägungen zur Mindestlohn-Richtlinie aufgegriffen. So heißt es in der Erwägung Nummer 15: „Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bestimmt, dass Arbeitnehmer mit Behinderungen, auch solche in geschützten Beschäftigungsverhältnissen, für gleichwertige Arbeit ein gleiches Entgelt erhalten. Dieser Grundsatz ist auch im Hinblick auf den Mindestlohnschutz relevant.“
Die Erwägungen treffen vor allem allgemeine Aussagen darüber, welche Gedanken und Leitlinien in die Artikel, das heißt die tatsächlichen bindenden Regelungen der Mindestlohn-Richtlinie eingeflossen sind. Die zitierte Vorgabe, dass Menschen mit Behinderungen „für gleichwertige Arbeit ein gleiches Entgelt erhalten“ müssen, stammt aus Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).
Einfluss auf den Prozess zur Entwicklung eines zukunftsfähigen Entgeltsystems unklar
Die Erwähnung von geschützten Beschäftigungsverhältnissen in den Erwägungen ist ein Indiz, dass diese beim Thema Mindestlohn nicht mehr pauschal unbeachtet bleiben. Der Hinweis auf die EuGH-Rechtsprechung könnte dafür sorgen, dass das deutsche arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis genauer betrachtet wird.
Allerdings sind weder die oben genannte Entscheidung des EuGH noch Artikel 27 der UN-BRK neu, sodass sich daraus jedenfalls keine neue Rechtslage ergibt. Ein klarer Handlungsauftrag für die deutsche Bundesregierung, in Werkstätten den Mindestlohn einzuführen, ist daher erst mal nicht ersichtlich.
Vielmehr bleibt abzuwarten, ob und wie sich die Mindestlohn-Richtlinie in den nächsten zwei Jahren auf den Prozess zu einem neuen Entgeltsystem in deutschen Werkstätten auswirken wird.
Die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU finden Sie hier.