Vor sechs Wochen endete das „Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen“. Ein Jahr lang haben Tausende von Menschen auf kreative Weise in zahlreichen Veranstaltungen auf ihre Situation aufmerksam gemacht. Unter dem Motto „Nichts über uns ohne uns“ haben sie sich für Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbestimmung eingesetzt. Ihr Engagement und eine erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit haben sicher eine positive Bewußtseinsänderung angestoßen. Dennoch bleibt der traurige Beigeschmack, daß auf der Habenseite nicht viel zu verbuchen ist. Für Deutschland muß man eine recht ernüchternde Bilanz ziehen, denn für viele Menschen mit Behinderung hat sich die Situation sogar verschlechtert.
Dabei sind wir uns im Ziel doch eigentlich einig: Wir wollen eine Gesellschaft, wo auch Menschen mit Beeinträchtigungen gleichberechtigt am Alltagsleben teilnehmen können. Jede und jeder von uns will doch im Leben seine Frau oder seinen Mann stehen, seinen Lebensunterhalt selbst verdienen statt von Fürsorge abzuhängen, seine Begabungen so gut es geht auch im Beruf verwirklichen, Anerkennung für seine Leistung bekommen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Beruf und Beschäftigung sind wichtige Elemente, die Menschen mit Behinderung Teilhabe, Gleichstellung und Selbstbestimmung ermöglichen. (…)
Die Bundesregierung hat ihrem Gesetzentwurf einen viel versprechenden Titel gegeben: „Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen“ . Dieser Überschrift wird, wenn man genau hinschaut, der Inhalt nicht gerecht. Angemessener wäre es, den Entwurf mit „Änderungen zum SGB IX“ zu betiteln. (…)
Im Dezember hatten wir im Bundesgebiet 168.951 Schwerbehinderte, die arbeitslos gemeldet waren. Das sind fast 13.000 Personen mehr als Ende 2002. Das ist ein Zuwachs von 8,1 % allein im Lauf des letzten Jahres – von einer verbesserten Situation kann also wahrlich nicht die Rede sein. (…)
Der vorliegende Gesetzentwurf wird die Zielsetzung, die Ausbildung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen zu verbessern, nicht erreichen. Zwar gibt es im Gesetzentwurf sinnvolle Ansätze (…). Aber meistens handelt es sich mehr um Soll- und Kann-Vorschriften oder Verfahrensänderungen, die sich einfach aus der Umsetzung des SGB IX ergeben. (…)
An zwei konkreten Punkten möchte ich besonders darlegen, warum wir dem Gesetzentwurf nicht zustimmen werden:
Wir hatten gefordert, daß die Leistungsdauer im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich der anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen endlich eindeutig und ohne Ausnahmen festgeschrieben wird. Es gab diese sinnvollen Vorschläge im Referentenentwurf - deswegen haben wir ursprünglich gedacht, daß wir zustimmen könnten. Völlig unverständlich ist uns nun, daß Rot-Grün sie wieder gestrichen hat. Zwar sind die Formulierungen offensichtlich durch den Druck der Union und des Bundesrates nachgebessert worden. Aber trotzdem sind die Regelungen nicht ausreichend und es bleibt weiter Unsicherheit. Alle Beteiligten in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen müssen wissen, wie lange der Zeitraum für das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich gesichert ist. Wir haben in der Anhörung im Gesundheitsausschuß im November von fast allen Sachverständigen gehört, daß die unklare Regelung zu zahlreichen Streitigkeiten geführt hat. Nur wenn der Zeitraum eindeutig gesichert ist, können Ausbildungs-Konzepte umgesetzt werden, die an individuellen Fördermöglichkeiten und Fähigkeiten ausgerichtet sind. Ich will ausdrücklich darauf hinweisen, daß diese Maßnahmen keinerlei Mehrkosten nach sich ziehen würden, sondern höchstens eine Belastungsverlagerung von der Bundesagentur für Arbeit auf andere Träger, vor allem im Berufsbildungsbereich. Durch die jetzige Regelung, die den Finanzierungszeitraum nicht unmißverständlich festschreibt, bleibt es bei dem bürokratischen Aufwand. Zudem könnten durch eine eindeutige Festschreibung langwierige Rechtsverfahren vermieden werden. (…)
Ein weiteres Problem, das den Gesetzentwurf für uns untragbar macht, ist die ebenfalls zurückgenommene Regelung zum Anhörungsrecht der Schwerbehindertenvertretung. Auch hier waren wir nach dem Referentenentwurf noch guter Hoffnung auf eine wirksame Verbesserung des geltenden Rechts. Aber die Bundesregierung hat uns mit ihrem überarbeiteten Entwurf enttäuscht. Um das hier noch mal ganz deutlich zu sagen: es geht nicht um Mitbestimmung, diese soll selbstverständlich dem Betriebsrat vorbehalten bleiben, und das haben auch die Verbände selbst in der Anhörung ganz deutlich so formuliert. Aber: wie soll denn die Schwerbehindertenvertretung effektiv arbeiten, wenn sie ihr Recht auf Anhörung und Information nicht wirksam durchsetzen kann? Es leuchtet doch allen ein, daß eine solche Vertretung wenig Sinn macht, wenn sie nicht so rechtzeitig informiert wird, daß sie ihr Wissen überhaupt in den Entscheidungsprozeß einbringen kann. Die CDU/CSU-Fraktion hält an ihrer Forderung fest, daß Entscheidungen des Arbeitgebers, die schwerbehinderte Mitarbeiter betreffen, ungültig sind, wenn ihre Vertretung nicht vorher angehört worden ist. Nur so kann die Schwerbehindertenvertretung überhaupt eine aktive Rolle bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit behinderter Menschen übernehmen, und nur so bleibt sie attraktiv genug, um überhaupt genügend freiwillige Mitarbeiter zu finden. Durch eine simple Erhöhung des Bußgeldes, wie sie jetzt vorgesehen ist, wird sich faktisch nicht viel ändern. Hier wäre die Gelegenheit gewesen, ohne zusätzliche Kosten ein wichtiges Signal zu setzen. (…)
Es ist mit § 72 Absatz 2 Satz 2 SGB IX eine Regelung vorgesehen, daß Arbeitgeber ab hundert Arbeitsplätzen wenigstens fünf Prozent ihrer Stellen zur beruflichen Ausbildung mit behinderten und schwerbehinderten Menschen besetzen sollen. Schon jetzt steht im Gesetz, daß bei den Ausbildungsplätzen Menschen mit Behinderungen angemessen berücksichtigt werden sollen. Was wird dann diese „Soll-Vorschrift“ ohne Sanktionen mehr bringen? Das ist Gesetzeslyrik, die in der Praxis nichts bewirkt, das haben wir ja an der mangelnden Umsetzung der schon bestehenden gesetzlichen Vorgabe gesehen.
Ich darf aber noch einen Punkt zu bedenken geben: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden den Betrieben neue Möglichkeiten der Mehrfachanrechnungen ermöglicht. Auch wird der Kreis der anrechenbaren Personen erweitert. Damit und mit der niedrigeren Pflichtquote müssen Betriebe künftig weniger abführen. Zudem sollen diese gesunkenen Einnahmen dann noch für neue Aufgaben verwendet werden. Es muß also noch weit stärker als bisher darauf geachtet werden, daß Aufgaben, die bislang durch diese Einnahmen finanziert wurden, weiter gesichert bleiben. Es darf nicht zu Einsparungen bei Maßnahmen kommen, die sich zu Lasten der Behinderten auswirken würden.
(…) Langfristig kann das Ziel der Wiedereingliederung und Sicherung der Beschäftigung von behinderten und schwerbehinderten Menschen nur erreicht werden, wenn die wirtschaftliche Situation in Deutschland nachhaltig verbessert wird. Nur so können auch Menschen, die manchmal auch weniger leistungsfähig sind, wieder Chancen auf dem Arbeitsmarkt bekommen. Und nur so kann ihre vollständige Teilhabe und selbständiges Leben aus eigener Kraft gesichert werden.
Abschließend möchte ich daran erinnern, daß Integration ja nicht erst mit dem Eintritt ins Arbeitsleben beginnt. Schon weit früher - in Kindergarten und Schule - können Barrieren im Kopf am besten abgebaut werden. Wenn man gemeinsam lebt und lernt, schwinden die Vorurteile und es wird erkannt, zu welchen Leistungen Menschen mit Behinderung fähig sind.